Eine riesige AIDS-Schleife auf dem Potsdamer Platz

Foto: Axel Kawalla
Eine riesige AIDS-Schleife auf dem Potsdamer Platz
Überlegungen zur Welt-Aids-Konferenz 2016 in Durban/Südafrika
Zur fünftägigen Welt-AIDS-Konferenz in der südafrikanischen Hafenstadt Durban trafen sich mehr als 18.000 Mediziner, Vertreter von Regierungen, Kirchen, Hilfsorganisationen und Selbsthilfegruppen. Axel Kawalla, HIV- und AIDS-Seelsorger in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, war erstmals als Delegierter dabei. Für ihn war es eine Reise in "das Epizentrum der Epidemie": Das südliche Afrika ist die Region mit den höchsten HIV-Raten weltweit. Doch das Thema gehört mitten in unseren – deutschen, kirchlichen – Alltag, so seine Bilanz.

Weit sichtbar, zwischen dem Messegelände und einem großem Einkaufszentrum, steht eine riesige AIDS-Schleife im südafrikanischen Durban. Nicht nur für einen Tag oder eine Woche, sondern seit dem Jahr 2000, fest installiert als dauerhaftes Denk- und Mahnmal. Wäre dies ebenso vorstellbar in Deutschland, etwa auf dem Potsdamer Platz, vor dem Hamburger Rathaus oder dem Zoo in Hannover?

Als HIV- und AIDS-Seelsorger der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover bin ich zur Welt-AIDS-Konferenz nach Südafrika gereist, um die Bedeutung dieser Krankheit besser zu begreifen. Nach einer Woche in Durban ist ein Ergebnis für mich: Ich will wieder neu lernen, dass HIV und AIDS ein Problem der Menschheit – und damit auch für mich als Mensch und Christ in Hannover – ist.

Ganz oben auf die Agenda

Vom 18. bis 22. Juli tagte die 21. Welt-AIDS-Konferenz. Und von dieser Konferenz ging ein starker, einhelliger Appell  an die Weltgemeinschaft aus, das Thema HIV und AIDS wieder ganz oben auf die Agenda zu nehmen. Die Schauspielerin und Oscar-Preisträgerin Charlize Theron eröffnete die Tagung mit dem Eingeständnis, dass diese Gastgeberschaft nichts sei, worauf sie als Südafrikanerin stolz wäre – und dass es hoffentlich nicht zur Gewohnheit werde, sich immer wieder hier zu treffen. Es sei viel geschafft worden, doch es liege noch mehr Arbeit vor uns: Denn noch immer werde die heterosexuelle Liebe höher gewichtet als die homosexuelle, ein Mann höher gewichtet als eine Frau, ein Erwachsener höher als ein Kind und ein weißer Mensch höher als ein schwarzer.

Theron benannte damit zu Beginn, was die Konferenz in den Folgetagen durchbuchstabierte: Es ist nicht nur das Virus, das tödlich ist. Angesichts der Behandlungsmöglichkeiten durch Antiretrovirale Therapie ist es die Ungleichbehandlung von Menschen, die tödlich wirkt. In Ländern des Nordens leiden die Betroffenen unter der Stigmatisierung von Homosexualtät und HIV-Infektion. In anderen Ländern, vor allem im südlichen Afrika, fehlt es dagegen am Zugang zu Medikamenten – was nach wie vor zu hohen Sterberaten führt.

140.000 Menschen starben in Südafrika im Jahr 2014 an den Folgen von HIV und AIDS, weltweit müssen die Toten jährlich noch immer in Millionen gezählt werden. Dank großer Anstrengungen sind in Südafrika 3,5 Millionen Menschen in HIV-Behandlung. Das ist ein großer Erfolg – doch mehr als fünf Millionen sind infiziert. Das sind zehn Prozent der Bevölkerung. In Deutschland stagnieren die Zahlen seit Jahren bei etwa 0,1 Prozent.

Ich muss gestehen, dass ich vor der Ernennung zum HIV-Seelsorger nur einmal im Jahr, zum Welt-Aids-Tag am 1. Dezember, an dieses Thema gedacht habe. Hier, im Epizentrum der Epidemie, dringen die Zahlen deutlicher an mein Ohr: dass beispielsweise in Lesotho mehr als 30 Prozent aller 14-40-jährigen Mädchen und Frauen HIV positiv sind. Welche Anstrengungen würden wir unternehmen, wenn in Deutschland acht Millionen Menschen infiziert wären? Was täte ich, wenn die Kirche unserer Gemeinde in Lesotho stünde?

Über Sex reden – über guten Sex reden

“Und jetzt drehen Sie sich bitte zu Ihrem Bank-Nachbarn, sehen ihm/ihr in die Augen und sagen das Wort: 'Sex‘.“ – Überall Schmunzeln und Lachen im Konferenz-Saal der interreligiösen Vorkonferenz AIDS 2016. – “Ihr Lachen drückt aus, dass Sie sich unwohl fühlen, dieses Wort auszusprechen; nun machen Sie bitte dasselbe und sagen: 'guter Sex‘.“ – Reverend Edwin Sanders aus den USA lässt nicht locker. Die Irritation des ersten Mals ist verklungen und wir machen das Spiel weiter mit. “Und jetzt drehen Sie sich ein drittes Mal zum Nachbarn und sagen: 'Und davon eine ganze Menge‘.“

Sanders kommt aus Nashville/Tennessee (USA) und arbeitet als Pastor daran, die Vision einer inklusiven Gemeinde umzusetzen. Und er geht ungewöhnliche Wege, seine Gemeindeglieder mit ihren eigenen Denkgewohnheiten zu konfrontieren. Mit der Einladung, diese Worte auszusprechen, brachte er auf den Punkt, woran Kirchen und Glaubensgemeinschaften in den nächsten Jahren arbeiten müssen, wenn sie ihren Beitrag zur Bekämpfung von HIV und AIDS leisten wollen. Kirchen können zwar stolz darauf sein, was sie geschafft haben. Sie waren oft noch vor Regierungen und anderen Institutionen tätig im Kampf gegen die Krankheit: In Afrika beispielsweise sind sie für die Hälfte aller AIDS-Programme verantwortlich.

Welt-AIDS-Konferenz

Aber die Kirchen und Glaubensgemeinschaften sind oft zugleich Bremsklötze dieser Bewegung. Über Körper und Sexualität in der Kirche oder gar in einer Predigt zu sprechen, ist fast überall ein Tabu. Viele Kirchen sind weit davon entfernt, Homosexualität für normal zu halten. Und so werden Menschen, die eine andere Sexualität leben als die Mehrheit, und die dabei mit HIV infiziert wurden, von dieser Gemeinschaft ausgeschlossen – ohne dass darüber auch nur ein einziges Wort gefallen wäre.

Worüber nicht gesprochen wird, so denken wir, dazu ist doch alles gesagt. Das Gegenteil ist der Fall: Das Thema bleibt unklar, unscharf und jederzeit kann ich mich darauf zurückziehen, dass ich es nicht gesagt, also nicht so gemeint habe. Dies schadet besonders den Menschen, die besonders verletzbar sind: Kinder und Jugendliche, darunter besonders Mädchen und junge Frauen, die von der Gesellschaft nicht den Schutz bekommen, den sie brauchen. Für sie bleibt die Gefahr, sich mit HIV zu infizieren, weiterhin erschreckend groß: Allein in Südafrika werden jede Woche 2.500 von ihnen infiziert. Ungeschützter und oft gewaltsamer Sex sind die Hauptursache für diese hohen Zahlen. Doch solange geschwiegen wird, können Männer sicher sein, dass sie sich weder vor den Familien noch vor Greichten verantworten müssen.

Londiwe Ngubane ist Oberschwester im Hillcrest-AIDS-Centre vor den Toren Durbans. Das Zentrum wurde vor 25 Jahren von der Methodistischen Gemeinde Hillcrest gegründet. Londiwe erzählte von ihrer Arbeit: “Wir können in unserem Zentrum bis zu 24 Patientinnen und Patienten versorgen. Viele von ihnen kommen mit starker HIV-Infektion oder im Endstadium AIDS. Alle bekommen dieselbe Liebe und Pflege, bis sie entweder nach Hause entlassen werden können, oder hier in christlicher Nächstenliebe sterben.

Londiwe Ngubane, Oberschwester im Hillcreat-AIDS-Centre, vor der Wand mit den Namen der verstorbenden Patienten.

Drei von zehn Patienten sterben hier. Hinter mir sehen Sie unsere Gedenkwand mit den Namen. Aber HIV ist für die Familien nicht das einzige Problem. Viele Medikamente müssen dreimal am Tag mit einer Mahlzeit eingenommen werden; das ist für Sie in Europa normal. Was passiert aber, wenn das Geld nur für eine Mahlzeit reicht? Deshalb kümmert sich dieses Zentrum auch um Schulbildung der Kinder und bringt die Menschen dazu, Einnahmequellen zu erfinden: Die Baumschule, die Kleider-Werkstatt und Kunsthandwerk vieler Frauen helfen dabei, statt nur einer, dem Kind vielleicht zwei Mahlzeiten anbieten zu können.“

Was mich bei diesem Bericht beschämt hat, war die Bescheidenheit und Motivation, mit der Londiwe ihre Arbeit beschrieb: Über allem stehe, dass es für sie ein Privileg sei, den Menschen helfen zu können.

Viel ist über die Welt-AIDS-Konferenz berichtet worden. Das ausgerufene Ziel ist, AIDS als Epidemie bis 2030 zu beenden. Und die Botschaft, die von Durban ausging, war deutlich: Wenn wir bis 2016 so weit gekommen sind, können wir es bis 2030 schaffen. Doch dazu müssen alle mitziehen, mit ganzer Kraft, großen finanziellen Ressourcen, allem Ehrgeiz und Kreativität.