"Es ist Gottes Wille, dass wir hier sind"

Aufgehäufte Trümmer und Schutt unter blauem Himmel in Pedernales.
Foto: Johannes Süßmann
Pedernales in Ecuador nach dem Erdbeben.
"Es ist Gottes Wille, dass wir hier sind"
Was tun nach so einer schrecklichen Katastrophe wie dem Erdbeben in Ecuador? Ruhig bleiben und anpacken, jeder an seinem Ort. Das scheint die Devise der meisten Ecuadorianer zu sein - zumindest hat es Johannes Süßmann so erlebt. Er lebt in Ecuador und ist für evangelisch.de ins Erdbebengebiet gereist.

Wieder einmal hat die Natur zugeschlagen, mit ihrer ganzen zerstörerischen Kraft. 90 Sekunden lang bebte am Samstag in Ecuador die Erde. 90 Sekunden. Die Folgen werden noch in Monaten, vielleicht noch in Jahren spürbar sein. Hunderte Menschen haben ihr Leben verloren, Tausende ihre Angehörigen, Abertausende ihre Häuser, ihre Arbeit, ihre Heimat. Wie umgehen mit der Katastrophe?

Für die Menschen in vielen Orten vor allem an der Pazifikküste des kleinen südamerikanischen Landes zählt im Moment vor allem eines: schnelle Hilfe. Am schlimmsten getroffen hat es die 50.000-Einwohner-Stadt Pedernales. Seit Tagen gibt es hier kein Wasser, keinen Strom. Überall dröhnen Generatoren. Das Ausmaß der Verwüstung ist schwer zu fassen. Bis zu 80 Prozent aller Gebäude sind ersten Schätzungen zufolge bis zur Unbewohnbarkeit beschädigt oder eingestürzt. Ruinen reihen sich an Ruinen. Helfer bahnen sich ihren Weg über meterhohe Schuttberge. Es ist unerbittlich heiß. Über all dem liegt ein beißender Geruch. Von verderbendem Müll. Von Verwesung.

Am Rand einer mit Trümmern übersäten Straße gräbt eine Frau in den Resten ihres Hauses. Immer wieder wischt sie sich Tränen aus den Augen. Aus dem Schutt zieht sie einen verstaubten Pullover. Eine Hose. Einen zerfetzten Schuh. Wie es weitergehen soll? "Wir können hier nicht weg", schluchzt die Frau. "Wo sollen wir denn hin?" Dann wendet sie sich ab.

Dienstagmorgen, 60 Stunden nach dem Beben. "Es gibt nichts zu Essen", klagt Carlos. Mit Mühe und Not konnte sich der 23-Jährige mit seiner Frau und seiner zwei Jahre alten Tochter während des Bebens hinaus auf die Straße retten. Und musste dann mit ansehen, wie das Gebäude in sich zusammenfiel. Auf einen Schlag lag alles, was einmal ihr Leben war, in Trümmern. Nun wollen sie weg, in die Hauptstadt Quito. Damit Carlos wieder arbeiten, damit er seine Familie ernähren kann. Zu Hunderten verlassen die Menschen die Stadt, mit Pick-ups und Lastwagen. Sie sind schwer beladen, mit Möbeln, Stühlen, Matratzen und Gasflaschen, mitunter auch mit Särgen.

Hilfskräfte in Pedernales.

Die Nothilfe lief zunächst schleppend an. Das liegt zum einen am Ausmaß der Katastrophe: Es sind einfach zu viele Menschen zu versorgen. Manch kleiner Ort an der Küste ist noch immer weitgehend von der Außenwelt abgeschnitten. Dazu hat das Beben viele Straßen beschädigt und Erdrutsche ausgelöst. Das Klimaphänomen El Niño sorgt mit heftigen Regenfällen für ein Übriges: Immer wieder rutschen die notdürftig beiseite geschafften Erdmassen zurück auf die Fahrbahnen und blockieren Hilfstransporten den Weg.

Wie umgehen mit der Katastrophe? So groß das Leid ist, in Pedernales und in anderen Orten an der Küste; so groß der Schmerz der Angehörigen, so verheerend die Zerstörung: Die ganz große Verzweiflung ist dieser Tage nur selten zu sehen in Ecuador. Das Land reagiert mit einer erstaunlichen Ruhe, mit einer Art konzentrierter Anspannung auf die Tragödie. Aus Sicht eines Mitteleuropäers, der an wöchentlich wechselnde Medienhypes gewöhnt ist und an die sprichwörtlichen Säue, die regelmäßig durch die Dörfer getrieben werden, wirkt das anfangs irritierend.

In gewisser Weise gehört das Gefühl des Ausgeliefert-Seins zum Leben dazu

Alexander von Humbolt notierte Anfang des 19. Jahrhunderts nach einer Reise in das Andenland: "Die Ecuadorianer sind seltsame und einmalige Wesen: sie schlafen ganz ruhig mitten unter knisternden Vulkanen, sie leben arm inmitten von unermesslichen Reichtümern und sie freuen sich über traurige Musik." Wie vermutlich jeder Versuch, ein gesamtes Volk in ein paar Sätzen zu beschreiben, hat auch dieser seine Mängel. Dennoch enthält er viel Wahres.

Da ist zum einen die geographische Lage. Über 80 Vulkane stehen in Ecuador verteilt, fast ein Dutzend davon sind aktiv, vier davon zurzeit besonders. Vor den Küsten des Landes treffen mehrere Erdplatten aufeinander. Vulkanaktivitäten und Erdbeben gehören hier - in leichterer Form - zum Alltag, ähnlich wie in Peru, Chile und anderen Ländern Lateinamerikas. In gewisser Weise gehört das Gefühl des Ausgeliefert-Seins also zum Leben jedes Ecuadorianers, jeder Ecuadorianerin dazu.

Straßenansicht in Pedernales.

Was zum – sinnbildlichen - Kern von Humboldts Ausspruch führt: dem ruhigen Schlaf, inmitten all der Gefahren. Es scheint, als entwickle, wer hier aufwächst, eine besondere Art der Gelassenheit im Umgang mit Schicksalsschlägen. Vielleicht, weil der Tod hier näher am Leben ist als anderswo. Manche Beobachter mögen diese stoische Art der Ecuadorianer mitunter als Teilnahmslosigkeit, ja Gleichgültigkeit auslegen. Für mich und andere Deutsche, die wir erst seit einigen Monaten hier leben, hat sie dieser Tage eine zutiefst beruhigende Wirkung. Denn es ist ja wahr: Was in der Katastrophe am wenigsten hilft, ist Hysterie. Und wie stark, wie bewundernswert, wem es gelingt, auch so zu handeln.

Für dieses tiefe Vertrauen, dieses Gefühl des eingefügt-Seins in etwas Größeres, Unbeherrschbares, steht auch Gabriel Velázquez. 73 Jahre alt, hat der Fischer mehr als die Hälfte seines Lebens in Pedernales verbracht. Als die Erde bebte, war er auf dem Wasser. Als er zurück an Land ging, gab es sein Haus nicht mehr. Nun schläft er am Strand, in seinem Fischerboot. Auf die Frage, ob auch er die Stadt verlassen werde, antwortet er: "Was soll ich schon machen? Wir leben nun mal hier. Es ist Gottes Wille, dass wir hier sind."   

In einem Bus von Pedernales nach Quito sitzt Sebastián. Während des Bebens war er in dem kleinen Küstenort Canoa und besuchte einen Freund. Sebastián kam mit dem Leben davon. Viele andere nicht. Er sah Tod, Elend und Zerstörung - und hatte nur einen Gedanken: weg von hier. Seinen Freunden in Quito und anderen Städten habe er mit Nachdruck ausgeredet, ihrem ersten Impuls zu folgen, ins Katastrophengebiet zu fahren und zu helfen. "Dafür gibt es ausgebildete Spezialkräfte, und die fahren jetzt da hin", habe er ihnen gesagt. "Die haben Erfahrung mit solchen Situationen und sind vorbereitet auf die Gefahren. Ich selbst kann mehr helfen, wenn ich am Leben bin, als wenn ich tot bin. Ich werde tun was ich kann und helfen, wo ich kann - aber im Rahmen meiner Möglichkeiten."

Nationale und internationale Katastrophenhelfer sind eingetroffen, bislang an die Tausend, und täglich werden es mehr. Ihre Arbeit ist hart, unermesslich hart. Aber es ist ihre Arbeit. Nicht die von Sebastián. In Quito verabschieden wir uns: "Lass uns tun, was wir tun können, lass uns nach Hause fahren und Spenden sammeln, um sie an die Küste zu schicken." 

Bagger bei Aufräumarbeiten.

Die Spendenbereitschaft der Bevölkerung ist überwältigend. Hilfsorganisationen, Behörden, unzählige Freiwillige – sie alle sammeln Kleidung, Nahrungsmittel, Wasser, Medikamente, Handtücher, Atemschutzmasken, sortieren und verpacken die Dinge. Sie organisieren LKWs und schicken Konvois an die Küste. An einer der Sammelstellen in Quito fährt alle fünf Minuten ein Auto vor und bringt kistenweise neue Spenden. Allein aus der Hauptstadt wurden seit Sonntag 152 Lastwagen mit Hilfsgütern ins Katastrophengebiet geschickt. Drei von ihnen wurden unterwegs überfallen, berichtet einer der staatlichen Koordinatoren. Auch von Plünderungen in den Städten wird berichtet. Ab sofort begleiten Polizisten die Lastwagen.

Um die Suche nach Vermissten zu erleichtern, verschenken Telefonanbieter Pakete von bis zu Tausend Freiminuten und Tausend SMS. Im Kurznachrichtendienst Twitter kursiert ein Foto von Konservenbüchsen für die Menschen im Katastrophengebiet. Jemand hat sie mit Aufschriften versehen: "Du bist am Leben. Das ist das Wichtigste", "Verliere nicht den Glauben", "Bleibe hoffnungsvoll", "Gott ist mit dir. Bald wird es besser". In einem Restaurant steht ein Karton mit der Aufschrift: "Lege hier deine Essensspenden hinein – wir kochen für die Betroffenen." Viele Ecuadorianer sind derzeit stolz auf ihr Land, auf die große Hilfsbereitschaft.

Staatspräsident Rafael Correa, der seit Tagen durch die verwüsteten Gebiete reist, um Trost zu spenden, veröffentlichte am Mittwoch einen Brief. Bekommen hat er ihn von einer Zwölfjährigen. "Mit diesem Brief will ich Ihnen sagen, dass Sie in diesen schwierigen Zeiten nicht alleine sind", schreibt das Mädchen. "Viele Menschen helfen Ihnen." Sie habe den Glauben und die Hoffnung, dass sich alles zum Besseren wenden werde, schreibt sie weiter. Und ganz zum Schluss: "Alle gemeinsam, für Ecuador".