Darum bekriegen sich Sunniten und Schiiten

Foto: reuters/Peter Andrews
Blick in die Geschichte: Einheimische in Karbala stürzten 2003 eine Statue von Saddam Hussein am 18. Tag des Irakkrieges.
Darum bekriegen sich Sunniten und Schiiten
Für viele Experten ist das kein Glaubenskrieg. Thorsten Leißer von der EKD, der Politologe Ali Fathollah-Nejad, die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur und der Nah-Ost-Experte Michael Lüders sehen die Ursachen für den Konflikt woanders.

Im Irak, in Syrien, in Jemen und anderswo im Nahen Osten, liefern sich sunnitische Kämpfer des so genannten Islamischen Staats gewalttätige Auseinandersetzungen mit schiitischen Milizen. Im Iran gehen Schiiten gegen Saudi Arabien auf die Straße; gegen Schiiten hetzen wiederum wahabitische Geistliche im saudischen Königreich, wo der Wahabismus als eine extreme Form des Sunnitentums Staatsreligion ist.

Es vergeht kaum ein Tag, an dem Medien hierzulande nicht über diese Konflikte berichten. Einen Überblick über all die kriegerischen Auseinandersetzungen, über ihre Hintergründe und tatsächlichen Ursachen hat der Otto-Normal-Mensch aber kaum noch. Was bei vielen hängen bleibt ist, dass das alles wohl mit dem Islam zutun haben muss, schließlich finden die Kriege ja in muslimischen Ländern statt. Verwunderlich ist solch ein Rückschluss nicht, denn in der Berichterstattung über die Konflikte im Nahen Osten wird immer wieder auf den Islam Bezug  genommen. Nicht selten ist die Rede von einem Religionskrieg, dabei wird auch ein Vergleich zu den Glaubenskriegen zwischen Katholiken und Protestanten herangezogen.

Auf dem ersten Blick liege es nahe, die blutigen Ereignisse des 17. Jahrhunderts mit den Konflikten im Nahen Osten unserer Tage zu vergleichen, sagt Thorsten Leißer, theologischer Referent für Menschenrechte und Migration im Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Eine Parallele sieht Leißer darin, "dass auch heute zutage Angehörige verschiedener Konfessionen derselben Religion mit Waffengewalt aufeinander losgehen". Wenn die aktuellen Konflikte im Nahen Osten mit dem Dreißigjährigen Krieg verglichen werde, dann schwinge darin aber auch die Unterstellung mit, dass die islamische Geschichte mit ihren "konfessionellen" Verwerfungen einige Jahrhundert hinter der christlichen Entwicklung zurück sei. Wer meine, dass "der Islam" in sich "verroht" sei und noch eine "Zivilisierung" erfahren müsse, wie sie das Christentum nicht zuletzt durch die westliche Aufklärung erlebt hat, der vergesse, "dass es in der Geschichte bereits Zeiten des friedlichen Miteinanders unterschiedlicher muslimischer Konfessionen sowie eine unaufgeregte Koexistenz neben dem Christentum gab".

Dass heute Muslime in Regionen lebten, in denen Staat und Kirche/Religion getrennt sind und unterschiedliche Lebensbereiche ansprechen, zeige, "dass im Islam weniger ein Zivilisierungsdefizit vorliegt, sondern vielmehr in den Konfliktgebieten des Nahen und Mittleren Ostens nach wie vor religiöse Identität missbraucht wird, um machtpolitische Interessen durchzusetzen".

Dass die Auseinandersetzungen im Nahen Osten auf konfessionelle Differenzen von Sunniten und Schiiten zurückgeführt werden, bringt den Politologen Ali Fathollah-Nejad geradezu auf die Palme. "Eine Berichterstattung und eine Interpretation der Konflikte, die einen Religionskrieg suggerieren, ist falsch und absolut irreführend", sagt der deutsch-iranische Wissenschaftler. Er forscht unter anderem zu den ökonomischen Hintergründen und geopolitischen Auswirkungen der Arabischen Revolten. Wenn überhaupt die Konfession eine Rolle spiele, sagt Fathollah-Nejad, dann in der Weise, "dass sie von den Herrschenden instrumentalisiert wird, um eigene Machtansprüche durchzusetzen".

Als einen Glaubenskrieg möchte auch die Islamwissenschaftlerin und Politologin Katajun Amirpur die gewalttätigen Auseinandersetzungen im Nahen Osten nicht benennen. Genauso unabgebracht sei der Vergleich mit den Religionskriegen zwischen Katholiken und Protestanten. Der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten sei über Jahrhunderte gar nicht so groß gewesen und werde künstlich als ein konfessioneller aufgebauscht,  wenn damit erklärt werde, "dass es schon von Beginn an Unstimmigkeiten und Spaltungen gegeben hat".

Spaltung geht auf den Nachfolger des Propheten Mohammed zurück

Die Spaltung der Muslime in Sunniten und Schiiten geht auf den Streit um den Nachfolger des Propheten Mohammed zurück. Amirpur erklärt das Entstehen der beiden Glaubensrichtungen im Islam so: "Nach dem Tod Mohammeds im Jahr 632 gingen diejenigen, die man heute Sunniten nennt, davon aus, dass Mohammed keine Regelung betreffend seiner Nachfolge getroffen habe. Diejenige Gruppe hingegen, die heute Schiiten genannt werden, waren der Ansicht, dass der Prophet sehr wohl einen Khalifen designiert habe, nämlich seinen Cousin und Schwiegersohn Ali."

Der Streit habe sich also an der Frage entzündet, wer der legitime politische Nachfolger des Propheten sei. Zwar wurde Ali nicht der erste Khalif, kam aber an vierter Stelle, so dass kein sehr starker Konflikt in der Zeit der ersten drei Khalife ausgetragen worden sei. Erst als Ali selbst Khalif wurde, habe es kriegerische Auseinandersetzungen wegen der Nachfolge-Frage gegeben. "Meist war es aber so, dass die Sunniten über die Schiiten geherrscht haben. Eine permanente Verfolgung und Unterdrückung von Schiiten hat es nicht gegeben", erklärt Amirpur. Im Laufe vieler Jahrhunderte sei das Zusammenleben friedlich verlaufen und "nichts passiert"; erst im 20. Jahrhundert, mit dem Entstehen von Nationalstaaten, hätten Herrscher die jeweilige konfessionelle Minderheit  unterdrückt und schikaniert. Die Glaubensgemeinschaft der Schiiten macht etwa 20 Prozent der Muslime aus, eine Mehrheit hingegen hat sie im Iran, im Irak (60 Prozent) und in Bahrain. 

Michael Lüders: "USA für das Erstarken des Islamischen Staates mitverwantwortlich"

Die Konflikte in der Region seien "ganz wesentlich" durch die amerikanischen Militärinterventionen geschürt worden, sagt der Nah-Ost-Experte Michael Lüders. Mit den Auswirkungen der westlichen Invasionen befasst er sich in seinem jüngst erschienenen Buch "Wer den Wind sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet". Lüders macht für das Erstarken des Islamischen Staates nach dem Sturz von Saddam Husein und den Bürgerkrieg in Syrien die USA mitverantwortlich; jahrelang hätten die USA gemeinsam mit Saudi Arabien radikale Islamisten unterstützt  - in der Absicht, das Regime von Bashar al Assad in Syrien zu stürzen. "Es ist viel bequemer zu sagen, es ist ein islamisches Problem, es handelt sich um ein Religionskrieg, als wenn man eingestehen würde, dass es die unglückselige westliche Politik in der Region ist, die immer wieder dazu geführt hat, dass die Instabilität fortschreitet."  

Lüders sieht  im Westen grundsätzlich die Tendenz, "alle Probleme in der Region in der Religion zu verorten, mit der Argumentation, dass der Islam eine fanatische Religion  und überspitzt gesagt der Koran das Handbuch des Terrors ist". Auch für ihn steht fest, dass es sich bei den Auseinandersetzungen in der Region um die Verteilung von Macht und Ressourcen geht,  wobei Saudi Arabien, das sich als Schutzmacht der Sunniten sehe, und der Iran als Schutzmacht der Schiiten, Stellvertreterkriege in Syrien, Irak und Jemen führten.

Keine Hoffnung auf baldige Ruhe

Iran und Saudi Arabien konkurrierten miteinander, beide Länder wollen der "wichtigste Player" in der Region sein: Das ist die Analyse der Nah-Ost-Experten. "So lange der Schah noch an der Macht war, hatte unbestritten der Iran diese Position. Der damalige US-amerikanische Präsident Jimmy Carter sprach davon, dass der Schah sein Gendarm am Golf sei", erklärt Amirpur. Mit der Revolution im Iran habe sich das geändert und Saudi Arabien sei zum wichtigeren US-amerikanischen Stützpunkt am Golf geworden. Nachdem der Atom-Konflikt mit dem Iran gelöst worden sei und das Land wieder in die Staatengemeinschaft eingegliedert werde,  scheine sich Saudi Arabien um seine Vorrangstellung in der Region zu fürchten. 

Hoffnung auf eine baldige Ruhe in der von Krisen und Kriegen geplagte Region macht keiner der Fachleute. "Die Büchse der Pandora ist geöffnet worden durch den Sturz mehrerer Regime in der Region, vor allem im Irak und Libyen. Durch die Destabilisierung des Assad-Regimes in Syrien müssen wir uns an eine lange Phase der Instabilität in der Region, mindestens zehn bis zwanzig Jahre, einstellen", sagt Lüders. 

Selbstkritik als Beginn einer möglichen Lösung

Diese Konflikte seien das Ergebnis der westlichen Interventionen und auch der Unfähigkeit der arabischen Herrscher, eine konstruktive Politik zu betreiben, die sich orientiert an den Bedürfnissen ihrer jeweiligen Bürger. "Es gibt keine einfachen Lösungen, das betrifft auch den Flüchtlingsstrom, man wird ihn nicht aufhalten können, man kann ihn bestenfalls kanalisieren. Wenn man die Konflikte lösen will, dann muss man anfangen mit Selbstkritik, nämlich sich verabschieden von der Hybris, dass man immer mit Militärinterventionen irgendwelche Regime an die Macht bringt, die dann unsere – vor allem – amerikanische Interessen vertreten." Kritik übt Lüders an der deutschen Politik, die der Linie folge, die die USA vorgeben. Nutznießer dieser Konflikte seien Rüstungsindustrie, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich, Großbritannien und Russland.