Hoffen auf eine Zukunft nach dem Leid

Foto: epd-bild/Bettina Ruehl
Ein jesidisches Mädchen am 04.10.2015 in einem Fluechtlingslager für Jesiden in der Naehe von Kirkuk im Nordirak.
Hoffen auf eine Zukunft nach dem Leid
Sie war in der Gewalt des IS - monatelang. Jetzt wird Dschilal in Deutschland psychologische Hilfe erhalten, wie rund 1.000 Frauen und Kinder aus dem Nordirak, die meisten von ihen Jesiden. Dschilal liegt nichts am Leben, sagt sie, aber ihre Söhne sollen eine Zukunft haben.

Ihre Augen sind groß, dunkel und voller Traurigkeit. Leise, aber ohne zu zögern sagt Dschilal (Name geändert): "Ja, ich möchte nach Deutschland." Der Mann, der ihr am Schreibtisch gegenübersitzt, warnt: "In Deutschland wird alles anders sein. Und viele Menschen dort lehnen Flüchtlinge ab." Aus Sicherheitsgründen müssen Dschilal und der deutsche Mann anonym bleiben. Denn sie sind in einer Stadt im Nordirak, nur ein paar Dutzend Kilometer von den Gebieten entfernt, die die Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) kontrolliert.

Dass Dschilal und der Deutsche miteinander sprechen, ist Teil eines ungewöhnlichen Hilfsprojektes, das vermutlich die Rache der Terrormiliz provoziert: Baden-Württemberg nimmt 1.000 "schutzbedürftige Frauen und Kinder" aus dem Nordirak auf, wie die Landesregierung im März 2015 erklärte.  Die meisten sind Jesidinnen und Jesiden. Weltweit bekennen sich etwa 500.000 Menschen zum jesidischen Glauben, der unter anderem Elemente aus Indien, dem orientalischen Christentum und dem Islam vereint. Seit Jahrhunderten werden die Jesiden verfolgt. Der IS sieht in ihnen Teufelsanbeter oder Ungläubige, und damit nichts anderes als Beute, Sklaven oder Vieh.

Frauen als "Beutegut" verkauft

Die 26-jährige Dschilal war monatelang in der Gewalt der Terroristen, so wie bis zu 7.000 weitere Jesidinnen und Jesiden, die im Sommer 2014 verschleppt wurden. Tausende Männer wurden an Ort und Stelle ermordet, oft vor den Augen ihrer Frauen und Kinder. Die Frauen dagegen wurden als Sexsklavinnen an die Kämpfer verteilt oder als "Beutegut" gehandelt und verkauft. Die Terrormiliz füllt damit ihre Kriegskasse.

Hunderte vor allem alte Frauen haben die Milizionäre mittlerweile freigelassen. Andere wurden von nordirakischen Oberhäuptern freigekauft oder konnten fliehen. Mittlerweile entkamen schätzungsweise 2.000 Frauen und Kinder der Gefangenschaft. "Etwa 90 Prozent von ihnen zeigen Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung", sagt der Psychiater Jan Ilhan Kizilhan. Im Auftrag der baden-württembergischen Landesregierung hat er im Nordirak bereits Hunderte freigelassene Frauen und Kinder untersucht, die ihm als besonders schutzbedürftig vorgeschlagen wurden.

Es gibt sehr viel mehr als nur 1.000 Geschichten unermesslichen Leidens. "Aber wir haben für unser Projekt drei klare Kriterien", betont Kizilhan. Infrage kommen Frauen, die in der Gewalt des IS waren und die davon traumatisiert sind. "Und drittens muss die Wahrscheinlichkeit groß sein, dass wir ihnen in Deutschland therapeutisch helfen können." Eine alte Frau zum Beispiel sei womöglich nicht mehr in der Lage, sich an die völlig andere Kultur zu gewöhnen. Wer innerlich nicht Fuß fasst, ist vermutlich auch für eine Therapie nicht zugänglich.

Insgesamt 30 Millionen Euro hat die Landesregierung für das Projekt zur Verfügung gestellt. Allein fünf Millionen Euro davon braucht es für den Transport nach Deutschland und die Beschaffung der Papiere. Seit Monaten reist eine Delegation regelmäßig in den Nordirak, um zu entscheiden, wer für das Projekt ausgesucht wird. Außerdem werden bürokratische Fragen geklärt und Visa erteilt. In diesen Tagen muss die Abholaktion beendet sein.

Zu dieser Delegation gehört auch der Deutsche, der mit Dschilal spricht. Die junge Frau ist ganz in Schwarz gekleidet, langer Rock, weite Bluse, Kopftuch. Neben ihr sitzen ihre beiden Söhne, acht und sieben Jahre alt. Die Jungen verfolgen aufmerksam jedes Wort. Ihren Vater haben sie seit dem Überfall der Terroristen auf ihr Heimatdorf Kocho im Sommer 2014 nicht mehr gesehen. Fast alle Männer des kleinen Dorfes wurden ermordet, vermutlich auch ihr Vater.

"Wir haben keine Heimat mehr"

Dschilal hat mit ihren beiden Söhnen inzwischen fast alle Hürden genommen, die vor ihrer Ausreise liegen. Nur ein Gespräch fehlt noch. Dabei klärt ein Mitarbeiter der Delegation die Vertriebenen darüber auf, was sie in Deutschland erwartet: Schul- und Kindergartenplätze, Deutschkurse, Betreuerinnen, Therapieangebote, aber eben auch eine völlig fremde Kultur und meist städtisches Leben. Denn die Mehrzahl der Jesidinnen kommt vom Land und hatte bisher kaum Kontakt zur technisierten Welt.

Dschilal reibt sich die Handgelenke, während sie zuhört. Als würde sie sich jetzt daran erinnern, dass sie sich während der Gefangenschaft oft umbringen wollte. "Ein Mensch fühlt sich in seiner Heimat immer am wohlsten", sagt sie. "Aber wir haben keine Heimat mehr. Wie könnten wir hier leben, wo Menschen das Blut unserer Kinder trinken, und unsere Männer vor unseren Augen enthaupten?"

Ihr selbst liege nichts mehr am Leben, sagt Dschilal. "Aber wenigstens meine Söhne sollen eine Zukunft haben. Hier im Nordirak gibt es für uns alle keine Zukunft mehr." Dann unterschreibt sie für sich und ihre beiden Kinder, dass sie verstanden hat, was der Umzug nach Deutschland bedeutet. Mit dem nächsten Flug werden alle drei in ein anderes Leben starten.