Das Gefühl von Gemeinschaft

Kreuze in verschiedenen Farben an Lederbändern zum Umhängen.
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Das Gefühl von Gemeinschaft
Ein Zwischenfazit zur Serie "Was glaubt ihr? evangelisch.de besucht Freikirchen"
An zehn Sonntagen im Herbst 2015 haben wir von evangelisch.de freikirchliche Gottesdienste besucht und dazu Reportagen und Hintergrundartikel verfasst. Unser Fazit: Protestanten sind zwar sehr verschieden – aber durchaus offen füreinander. Wir sollten einander besser kennenlernen.

Die Recherche zu unserer Serie "Was glaubt ihr? evangelisch.de besucht Freikirchen" war intensiv. Bevor wir eine Liste mit zehn Freikirchen erstellen konnten, waren die Lektüre von zwei Fachbüchern und einige Telefonate mit Freikirchen-Vertretern und Konfessionskunde-Experten nötig. Daraus ergibt sich schon das erste Fazit: In einer Redaktion, die überwiegend aus landeskirchlich geprägten Protestanten besteht, mussten wir zum Teil unser Nichtwissen über (manche) Freikirchen erkennen und einsehen, dass wir etwas zu lernen hatten. Zum Beispiel, zwischen Sekte und Freikirche zu unterscheiden.

Pastor Bernd Densky, freikirchlicher Referent bei der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK), kennt das Problem. Der Baptist erzählt im Gespräch mit evangelisch.de von einem Erlebnis aus seiner Kölner Zeit: "Ich habe ein Schaukastenplakat ausgewechselt, da kamen junge Leute vorbei und sagten, so dass ich es hörte: 'Na, was macht die Sekte schon wieder?'" In der Wahrnehmung vieler Menschen würden Freikirchen "per se in die Sekten-Ecke gestellt", sagt Densky. Doch es gibt klare Unterscheidungsmerkmale, die wir im Rahmen unserer Serie zusammengefasst haben. Alle zehn, die vorgestellt wurden, sind Freikirchen – was nicht heißt, dass alle übrigen Sekten wären. Wir sind noch lange nicht durch und denken darüber nach, die Serie nächstes Jahr fortzusetzen.

Warum gehen Freikirchen in Deutschland in der öffentlichen Wahrnehmung derart unter? Zum einen weil sie klein sind. Alle Mitglieder der Vereinigung evangelischer Freikirchen (VEF) zusammen seien gerade mal 300.000 Menschen, sagt Bernd Densky. Ein weiterer Grund sei, dass  "in Deutschland – ich sag das auch mal bewusst zugespitzt – eine Staatskirchentradition besteht". Nur die beiden großen Kirchen würden als legitime christliche Konfessionen wahrgenommen, sagt der Freikirchen-Referent. Doch Freikirchen spielen keine kleine Rolle: Densky weist darauf hin, dass gerade sie zur Verankerung der  Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit in den Verfassungen beigetragen haben – auch im deutschen Grundgesetz. Freikirchen geben den Menschen eine Heimat, die ihren Glauben anders leben wollen, als es in den Volkskirchen üblich ist.

Unsere Erfahrungen bei den Gottesdienstbesuchen und Hintergrundgesprächen waren durchweg positiv: Die Reporterinnen und Reporter von evangelisch.de wurden in den Gemeinden sehr herzlich und offen empfangen. So meldet zum Beispiel Monika Konigorski von ihrem Besuch bei der Apostolischen Gemeinschaft in Köln zurück: "Sehr freundliche Aufnahme in der Gemeinde und beeindruckendes Interesse an Gespräch". In Herrnhut hat das Pfarr-Ehepaar Jill und Peter Vogt nicht nur von ihrer Gemeinde erzählt, sondern auch mit ehrlichem Interesse zurückgefragt: "Zu welcher Gemeinde gehören Sie und wie war Ihr Glaubensweg?" Die Baptisten in Barsinghausen empfingen Autorin Leonore Kratz und den Fotografen "sehr zuvorkommend, locker, freundlich, fast werbend" und versuchten, die beiden "zu einem zweiten (und dritten) Gottesdienstbesuch zu bewegen".

Manches ist zu privat, um es aufzuschreiben

Der Ablauf der Gottesdienste war in vielen Gemeinden recht ähnlich: Mit Ausnahme der Quäker gab es überall Predigt, Gesang und Gebete nach einem festen Ablauf. Dabei ging es in der SELK und der Herrnhuter Brüdergemeine traditionell-liturgisch zu, in der FeG und der Gemeinde Gottes dagegen lebhaft-charismatisch. Besondere Erlebnisse waren die Ganzkörpertaufe bei den Baptisten, die Dethard Hilbig hervorragend fotografiert hat, und die Fußwaschung, die bei den Siebenten-Tags-Adventisten dem Abendmahl vorausgeht. Autorin Luise Poschmann war fasziniert: "Alle Gemeindeglieder haben den Moment auf ihre Art sehr bewusst erlebt – ob in einer kleinen, fast fröhlichen Gruppe oder im stillen Gebet zu zweit. Dennoch bildete die Gemeinde zu diesem Zeitpunkt eine tiefe Einheit."

Das Beeindruckendste bei der Arbeit an dieser Serie war, zu erleben, wie sich christliche Gemeinschaft anfühlen kann. Gemeinschaft, die durch ganz unterschiedliche Arten, Gottesdienst zu feiern, zustande kommt. Egal in welcher Freikirche – stets war es den Mitfeiernden ein zentrales Anliegen, deutlich zu machen: Hier gehöre ich dazu, das ist meine Gemeinde. Und manchmal meldete sich in uns Reporterinnen und Reportern ganz leise der Wunsch, auch dazuzugehören. Wir haben an dieser Serie nicht nur gearbeitet, sondern wir haben auch selbst religiöse Erfahrungen gemacht. Persönliche Erfahrungen, die uns über den Berufsalltag hinaus wichtig geworden sind.

Es ist schön, zu erleben, dass in Gottesdiensten und beim anschließenden Kirchkaffee tiefe Gedanken und Befindlichkeiten zum Ausdruck kommen. Uns als Journalistinnen und Journalisten wurde dadurch noch einmal in Erinnerung gerufen: Es gibt Dinge, die zwar gesagt werden, die wir aber nicht aufschreiben sollten, weil sie einfach zu privat sind. Außerdem werden manche Formulierungen, die wir neutral finden, von Gesprächspartnern als kritisch oder negativ wahrgenommen. Damit müssen wir sensibel umgehen, gerade bei religiösen, persönlichen Themen.

Nicht nur die Gemeinden – auch wir haben versucht, uns zu öffnen und Berührungsängste zu überwinden. Das galt zum Beispiel für den Zugang zu einer Freikirche, die wir zuerst beinahe in die "Sekten-Ecke" gestellt hätten: Die Apostolische Gemeinschaft. Wir erfuhren, dass sie sich von ihren Ursprüngen (in den Anfängen Katholisch-Apostolische Gemeinden, später Neuapostolische Kirche) sehr stark emanzipiert und tatsächlich zu einer evangelischen Freikirche entwickelt hat. So gilt nicht mehr ein bestimmtes Datum für die erwartete Wiederkunft Christi, und man glaubt auch nicht, im Sakrament der Versiegelung über den Heiligen Geist zu verfügen. "Beeindruckend, diese Entwicklung, die Veränderung, die da im Gange ist", sagt Reporterin Monika Konigorski. Spannend fand sie auch, wie die Kölner Gemeinde die Entwicklung des Ämterverständnisses schilderte, nämlich "von der absoluten Autorität, die der oberste Apostel hatte, inclusive Verehrung, hin zu einem Verständnis von Ämtern als Ausstattung mit verschiedenen Gaben". Verehrt wird heute niemand mehr, "Priester, Hirtin und Evangelistin arbeiten alle ehrenamtlich und haben noch ihre normalen Berufe – das scheint mir erdend zu wirken, beispielsweise für die Predigt."

Einfach mal einander besuchen

Erdend wirkten zum Teil auch die Leserkommentare. Die Reaktionen auf unsere Serie waren nicht nur positiv. Auf Facebook schilderten Leserinnen und Leser ihre eigene Erfahrungen mit bestimmten freikirchlichen Gemeinden: Erfahrungen von moralischer Bevormundung oder sogar Ausgrenzung. Der Umgang mancher Freikirchen mit gleichgeschlechtlich liebenden Menschen wurde thematisiert – zu Recht aber auch angemerkt, dass das nicht nur ein Thema von Freikirchen, sondern auch mancher Landeskirche ist. Bibelfrömmigkeit und missionarisches Engagement freikirchlicher Gemeinden gehen manchen Protestanten zu weit, anderen dagegen in den evangelischen Landeskirchen nicht weit genug.

Bei allen inhaltlichen und theologischen Streitpunkten gilt es zu würdigen, wenn Gemeinden trotzdem aufeinander zugehen und zusammenarbeiten. "In den Beziehungen vor Ort erweisen sich zumindest die traditionellen Freikirchen als ökumenefähig", sagt Bernd Densky von der ACK. In den lokalen Evangelischen Allianzen und Arbeitsgemeinschaften Christlicher Kirchen stellen sich Vertreter verschiedenster Gemeinden zum Beispiel zusammen an Weihnachtsmarktstände, gründen Hilfsprojekte für Flüchtlinge oder treffen sich zu Gebetswochen. Diese Initiative erfahren zwar in den lokalen Medien öffentliche Beachtung – nicht aber in den überregionalen, was vielleicht zu dem falschen Eindruck führt, es gebe auf bundesweiter Ebene keine Zusammenarbeit. "Dialog auf kirchenleitendenden Ebenen und theologischer Gedankenaustausch haben die Dialogunfähigkeit durchbrochen und das ist gut so", schreibt Leser "Aloanoir" in einem Kommentar. Dem können wir als Redaktion uns anschließen. Unser Wunsch ist, dass gerade das Verbindende der Kirchen und Freikirchen öffentlich stärker wahrgenommen wird: der Glaube an den Dreieinigen Gott, das Vertrauen in seine liebende Zuwendung, die Hoffnung auf Versöhnung und die Hilfe für Menschen in Not. 

Wir hoffen, dass wir mit der Serie "Was glaubst du? evangelisch.de besucht Freikirchen" zum gegenseitigen Kennenlernen und zum Abbau von Berührungsängsten beigetragen haben. Wir ermutigen ausdrücklich dazu, einfach mal als Gast die eine oder andere Freikirche (oder umgekehrt: Landeskirche) am Heimatort zu besuchen, um sie ein bisschen kennenzulernen – selbst wenn man nicht dableiben will. Denn das Ziel "damit sie alle eins seien" (Johannes 17,21) erreichen wir am besten durch eine offene Haltung und durch direkte, persönliche Kontakte zu unseren Geschwistern im Herrn.