Religion ist kein Makel der modernen Gesellschaft

Glaube im Alltag
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Glaube im Alltag
Religion ist kein Makel der modernen Gesellschaft
Die EKD-Synode spricht über das Reformationsjubiläum
2017 jährt sich Martin Luthers Thesenanschlag zum 500. Mal. Die Reformation ist die Geburtsstunde der Neuzeit. Wie lässt sich das für Protestanten kirchenstiftende Ereignis feiern? Gibt es einen Geist der Reformation, der uns bis heute trägt und neu vermittelt werden kann? Die EKD-Synode berät darüber, wie der Glaube in der Gegenwart etwas gelten kann.

"Christlicher Glaube in offener Gesellschaft" lautet das Schwerpunktthema der EKD-Synode in Bremen im Herbst 2015. Es gehe um die Gegenwart des Glaubens angesichts des Reformationsjubiläums im Jahr 2017, sagte Rüdiger Sachau, Leiter der Evangelischen Akademie zu Berlin, der einen Kundgebungsentwurf zum Schwerpunkt mit dem Titel "Frei und engagiert" einbrachte. Der Entwurf begründet, warum Christen eine Verantwortung in der Gesellschaft haben und wie sie diese im Sinne des Potestantismus wahrnehmen könnten.

Protestantische Freiheit entfalte sich, in dem die Glaubenden immer neu und eigenständig auf die biblischen Texte hörten und sie auf ihre Situation und soziale Verantwortung für andere bezögen, heißt es in dem Entwurf. Die Tragik menschlichen Lebens bestehe allerdings darin, dass der Mensch sich selbst an die Stelle des Schöpfers zu stellen versuche und durch seinen Stolz daran gehindert werde, sein Leben ganz auf die barmherzige Zuwendung Gottes zu gründen. Dem stelle die Reformation das alleinige Vertrauen auf Gott als entscheidende Grundlage des Lebens entgegen.

"Religiöse Würdigung des Lebens in der Welt"

In einem Referat vor der Synode betonte der Jurist Udo di Fabio, der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirates der EKD für das 500-jährige Reformationsjubiläum ist, dass die Reformation als Geburtsstunde der Neuzeit eine wechselseitige Verbindung zwischen Kirche und Staat nach sich gezogen habe. Die Würde des Menschen stehe seitdem im Mittelpunkt unserer Rechtsauffassung. "Gerade dort wo der Mensch schwach ist, gelangt der Schutzauftrag des Grundgesetzes zur Geltung." Dies sei eine gemeinsame Grundlage des Staates und des Christentums.

Alleine habe jedes unserer "Funktionssysteme", politisches System und Kirche und wirtschaftliches System, eine Tendenz sich auf sich selbst zu fokussieren und die Pluralität aus dem Blick zu verlieren, sagte er. Deswegen wäre es nicht gut, das eine ohne das andere zu wollen. Das neuzeitliche Wertesystem setze voraus, dass sich Staat und Kirche gegenseitig achten und schätzen.

Dieser Gedanke schlägt sich auch im Kundgebungsentwurf nieder, in dem es heißt: "Für den lutherischen wie auch den reformierten Protestantismus ist eine neue religiöse Würdigung des Lebens in der Welt charakteristisch. Nicht das geistlich abgesonderte Leben - z.B. im Kloster - ist das Ziel, sondern das Leben im weltlichen Beruf." Deshalb würdige der Protestantismus ausdrücklich die Übernahme von Verantwortung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. "Der Protestantismus ist heute als eine Gestalt des Christentums zu beschreiben, die im besten Sinne 'zivilisierte' Religion, das heißt kompatibel mit dem Gemeinwesen ist."

Die Liebe Gottes bezeugen

Wir lebten in einer Zeit, in der die Grundlagen unserer Gesellschaft für viele zu selbstverständlich seien. Deswegen sei es Aufgabe der grundlegenden Institutionen der Gesellschaft gemeinsam für die demokratische Ordnung und ihre zugrundeliegenden Werte einzustehen und sie zu vermitteln. "Wir erleben in Europa heute einen Zusammenbruch einer Teil-Rechtsordnung", sagte Udo di Fabio. Die Frage sei, was daraus folge? Die Integrität territorial begrenzter Demokratien sei verwundet. Ein schwieriger politischer Akt sei es, die Wunde zu schließen und den Leitgedanken der unbedingten Würde des Menschen beizubehalten. Dies sei eine große Aufgabe in einem Zeitalter, in dem es "Verschwörungstheoretiker im Internet" leicht hätten.

Der Kundgebungsentwurf sieht vor, dass Christen mit ihrem Handeln die Liebe Gottes bezeugen, in der Art, wie sie andere sähen und mit ihnen lebten, wie sie ihre Aufgaben in der offenen Gesellschaft ausgestalteten und in ihren Vorstellungen von einem menschenwürdigen Sozialsystem. Protestantische Freiheit entfalte sich, indem die Glaubenden immer neu und eigenständig auf die biblischen Texte hörten und sie auf ihre Situation und soziale Verantwortung für andere bezögen.

Die Einbringung kann als einfache Hilfe für Christen verstanden werden, die sich gegen Widerstände engagieren und positionieren wollen: "Die Freiheit, sich kritisch zu äußern, nehmen zurzeit viele Menschen in Anspruch, nicht zuletzt, wenn sie die Medien als 'Lügenpresse' beschimpfen", sagte Sachau. Das sei jedoch nicht die Freiheit, die eine offene Gesellschaft kennzeichne. Die Freiheit der offenen Gesellschaft wie des christlichen Glaubens sei nicht die Einladung zur hemmungslosen Herabsetzung anderer. Sie enthalte vielmehr die Erwartung, dass wir uns mit Argumenten auseinandersetzen und die Würde des anderen achten. "Sine vi, sed verbo – ohne Gewalt, allein durch das Wort. "

"Religion ist ein Menschenrecht und kein Makel der modernen Gesellschaft", proklamiert der Entwurf. Cornelia Richter, Professorin für Systematische Theologie in Bonn, kritisierte den Entwuf als zu appellativ. In den Vorbereitungen auf das Reformationsjubiläum würde man sich zu stark auf Martin Luther fokussieren. Man solle Melanchthon nicht vergessen zu erwähnen, der im reformatorischen Zusammenhang wichtig für die Bildungsdikussion sei. Die Freiheit, die der Entwurf im Titel "Frei und engagiert" trage, sehe sie zudem nicht eingelöst. Die Professorin vermutete, dass der Entwurf in seiner jetzigen Form die Angesprochenen überfordern könne. Sie wünschte sich zudem einen fröhlicheren Ton und empfahl die Leidenschaft für den Imperativ.

Der Leiter der Evangelischen Akademie zu Berlin, Rüdiger Sachau, begrüßte die Kritik der Theologin: Sie könne den Synodalen einen Anstoß für die folgende Diskussion geben.

Unser Bestes verdanken wir Gott

Sachau warf gelöst vom Entwurf die Frage auf, wie die Mission Gottes durch Christinnen und Christen in der offenen Gesellschaft gestaltet werden könnte. "Nicht durch Macht und Beeindruckung kommt die Liebe Gottes in Jesus, sondern in Barmherzigkeit und Verwundbarkeit. Verletzlich bis ans Kreuz. Das begrenzt unseren Stolz, auch als Synode, die wir Gehör in der Gesellschaft finden wollen", sagte er.

Neben dem Kundgebungsentwurf steht die Erklärung zum Thema "Martin Luther und die Juden - Notwendige Erinnerung zum Reformationsjubiläum". Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, hatte zu Beginn der Synode in seinem Grußwort die Bereitschaft der Evangelischen Kirche begrüßt, sich ihrer Verantwortung für die Vergangenheit zu stellen und Antisemitismus entgegenzutreten. Schuster bemängelte jedoch die fehlende Distanzierung von der Judenmission. "Ich bin zuversichtlich, dass sie bis 2017 hier noch nachbessern werden", sagte er an das Plenum der Synode gewandt.

Sachau schloss mit einem Aufruf: Christinnen und Christen könnten mit ihren vielfältigen Beiträgen zur Bürgergesellschaft selbstbewusst auftreten, sagte er. Diese Selbstachtung bliebe jedoch eingebettet in die Erfahrung des Glaubens: "Unser Bestes ist ein Geschenk, das wir nicht uns selbst sondern Gott verdanken."