Aufgeben geht nicht

Kräne sind vor der Turmspitze des Ulmer Münster zu sehen.
Foto: imago/Westend61
Auch der Erhalt des Ulmer Münsters ist eine Daueraufgabe
Aufgeben geht nicht
Ihre gotischen Türme ragen bis zu 150 Meter weit in den Himmel hinein – die alten Kathedralen waren einst für die Ewigkeit gedacht. Doch seit einiger Zeit bröckeln die Türme. Tragendes Mauerwerk droht abzusacken. Im 21. Jahrhundert stellen sich die meisten Dome und Münster in Europa als Dauerbaustellen dar. Die Probleme sind außerordentlich komplex. Deshalb braucht es den Austausch der Experten. In Hamburg trafen sich in dieser Woche mehr als 100 Architekten und Bauleute zum europäischen Dombaumeistertreffen.

Es gibt eine Faustregel für die Restauration alter Kirchen: "Je älter, desto empfindlicher das Gemäuer, je komplexer es ist, desto mehr Arbeit steckt drin." So fasst es Michael Hauck zusammen, der Vorsitzende der Vereinigung der europäischen Dombaumeister. Viele Dome unterhalten bis heute eigene Dombauhütten mit Steinmetzen und Handwerkern wie der Dom in Meißen, Köln oder Ulm. Oder es sind zumindest Dombaumeister angestellt, die das Gebäude und die Schäden immer im Blick haben. Ihr Erfolg beim Erhalt der Kirchen ist auch vom offenen Austausch und Netzwerken abhängig. Denn die Probleme tauchen oft in ähnlicher Weise an verschiedenen Großkirchen auf. Die Architekten suchen die Konservierung, die den größten Erfolg gebracht hat. Meist ist es eine Mischung aus traditioneller Baukunst und Hightech im Messverfahren.

Beispiel Hamburger Michel. Die evangelische Barockkirche ist das Wahrzeichen Hamburgs. Die Kirche sieht nach der Renovierung 2009 aus wie neu. "Davor musste eine tragende Wand neu aufgebaut werden", sagt Michel-Architekt Joachim Reinig, der an der Kirche die Funktion eines Dombaumeisters innehat. "Wir mussten die fehlerhaften Reparaturen aus der Renovierung von 1908 - 13 beseitigen." Alte Sanierungen aus dem 19. und 20. Jahrhundert halten viele Dombaumeister bis heute in Atem.

Schon am Mörtel können Renovierungen scheitern. "Und einen Fehler in 20 Meter Höhe zu beseitigen, ist sehr aufwändig", unterstreicht Reinig. Es hängt oft mit den regionalen Baustoffen zusammen. Wenn im Mörtel salzhaltiger Sand verarbeitet wurde, dann platzt der schnell auf und das Salz dringt in den Stein ein. Dort setzt sich der Prozess der Zerstörung fort. "Doch bei der Restaurierung im 20. Jahrhundert wusste man es nicht besser", beteuert Reinig. Im Hamburger Michel wurde Segeberger Kalk für den Mörtel eingesetzt. Der war aber gipshaltig, das zog Wasser an und setzte eine chemische Reaktion in Gang. Die Steine lösten sich langsam auf.

Auch Verwitterungsprozesse vollziehen sich in einem Schneeballsystem. Es kommen viele Komponenten zusammen, erklärt Reinig. Die Kohleverfeuerung brachte den sauren Regen. Dadurch war von 1850 bis 1950 unwahrscheinlich viel Chlorgas in der Luft. Kalksandstein beispielsweise wurde dadurch regelrecht weggeätzt. Krusten der Verätzung verwandelten Gesichter auf Skulpturen in Oberflächen, die aussahen wie Orangen – alle Konturen verschwanden. Das bestätigt auch der Dombaumeister aus Halberstadt. In der DDR wurde mit schwefelhaltiger Braunkohle noch bis 1990 geheizt. Das war nach der Wende schlagartig vorbei.

Streusalz, Taubenkot, Ruß-Partikel und Schwefeldioxid als Feinde der Bauwerke

Jetzt droht keine Vergipsung mehr, stattdessen wachsen Algen auf dem Stein. Die speichern Wasser. Weitere Zerstörung droht. Neue Probleme entstehen auch durch Streusalz und Taubenkot, aber auch durch Ruß-Partikel und Schwefeldioxid aus der Schifffahrt und von Kraftfahrzeugen sowie aus der Verbrennung von Plastik.

Moderne Großkirchen müssen aber noch mit ganz anderen Anforderungen fertig werden. In der Vergangenheit waren viele evangelische Kirchen an Werktagen geschlossen. Der Michel ist heute den ganzen Tag über geöffnet. Mehr als eine Millionen Besucher zählt die Hamburger Kirche jedes Jahr. Als Veranstaltungskirche brauchte sie eine umfangreiche Lichtanlage und Lautsprecher. 20 Kilometer Kabel wurden verbaut.

Früher, als die Kirchen noch unbeheizt waren, lief bei Großveranstaltungen das Kondenswasser die Wände herab. "Durch das Wasser wurden auch zahlreiche Kunstwerke zerstört, alte Malereien und Wandbilder", sagt Dombaumeister Thomas Jochem vom Hamburger Mariendom. Also brauchte es moderne Lüftungsanlagen, die automatisch funktionieren. Sonst würde in mancher Kirche auch der Sauerstoff knapp werden.

Das Freiburger Münster steht mit seinen Bauleuten derzeit vor einer großen Herausforderung. Der filigrane gotische Turm ist weltweit einzigartig. "Bis heute hat man so ein statisch kühnes Bauwerk nicht mehr gewagt zu bauen", sagt Münsterbaumeisterin Yvonne Faller. Im Turm kämpfen die Steinmetzen und Maurer mit den Folgen der Sanierungen vergangener Zeiten. Dort müssen tragende Steine ausgetauscht werden, die einzeln bis zu 40 Tonnen Last tragen. Das alles in einer Höhe von fast 100 Metern.

Moderne Verwaltungsgebäude werden lieber abgerissen, als modernisiert

Viele Hundert Jahre hatte die gotische Konstruktion gehalten, bis dann Handwerker Teile des Schmiedeeisernen Rings durch eine Stahlkonstruktion ergänzten. Diese fing dann an zu rosten, deutet Faller das Problem an. Auch über fehlerhaften Mörtel kann die Architektin dramatische Geschichten erzählen. Vorgänger probierten, den ausgewaschenen Mörtel durch Zementmörtel zu ersetzen. Das ist noch haltbarer, glaubte man damals. Aber das Material versiegelte dermaßen den Stein, dass das Wasser nicht mehr abfließen konnte. Außerdem wurde der Zement zum echten Problem, weil er zu hart für den Sandstein war. Das heißt, der moderne Baustoff zerstörte den Sandstein langsam, weil ein tonnenschwerer Druck auf allem lastete. Wegen solch komplexer Prozesse im Bauwerk greifen heutige Baumeister lieber auf die alten Baustoffe zurück, weil deren chemisches Verhalten in der Komplexität bekannt ist.

Wenn man die Bauleistungen von heute und früher vergleicht, legt man heute oft andere Maßstäbe an. Moderne Verwaltungsgebäude halten meist nur 40 oder 50 Jahre und werden lieber abgerissen, als modernisiert. Da ist das Alter einer Kirche von 800 Jahren oder mehr eine Meisterleistung. Natürlich mit Werkstatt am Haus.

Die Arbeit setzen andere Generationen fort

Dombaumeister heute wissen aber auch um die Grenzen der eigenen Leistung. Obwohl man sehr genau überlegt und abwägt, wie am besten saniert wird. "Sicher würden Architekten in 100 Jahren zu anderen Mitteln greifen als wir heute", meint Faller. Der Erhalt der Kirchen ist ein langer Prozess, deren Ende man nicht erleben kann. Die Arbeit setzen andere Generationen fort. Aber trotz aller Probleme: Aufgeben geht nicht. Die mittelalterlichen Großkirchen brauchen eine ständige Betreuung durch Bauleute und Steinmetzen.