TV-Tipp: "Vier Minuten" (Einsfestival)

TV-Tipp: "Vier Minuten" (Einsfestival)
31. Juli, 20.15 Uhr, Einsfestival
Das Prinzip klingt einfach. "Wenn du eine brauchbare Hauptfigur hast, dann suche dir dazu den Charakter, der in deiner Hauptfigur den denkbar größten Vulkanausbruch hervorzaubert." Chris Kraus ("Scherbentanz") macht gar keinen Hehl daraus, dass er sich diese Schreibtechnik von Georges Simenon abgeschaut hat. Aber was er draus gemacht hat, ist ein Film, der völlig zu Recht einen Preis nach dem anderen abgeräumt hat.

Kraus’ Hauptfigur ist eine ungefähr achtzig Jahre alte Frau, Traude Krüger (Monica Bleibtreu), die seit Jahrzehnten in einem Gefängnis Klavierunterricht gibt. Der Direktor mag sie nicht, richtig viele Schülerinnen hat sie auch nicht, aber sie gehört irgendwie dazu. Für Irritationen in einem ansonsten gelebten Leben sorgen allenfalls kurze Erinnerungsschübe an eine Zeit vor über sechzig Jahren. Zwei junge Mädchen, Freundschaft, Zärtlichkeit: Gefühle, die seit Ewigkeiten verschüttet sind.

Und doch plötzlich wieder da, provoziert und evoziert von einer Göre, die quasi autistisch um sich selber kreist, für ihre Umgebung nur Verachtung übrig hat und regelmäßig explodiert, wenn man ihr zu nahe kommt. Kraus führt diese Figur denkbar lakonisch ein: Als Jenny (Hannah Herzsprung), eine verurteilte angebliche Mörderin, eines morgens aufwacht, hat sich ihre Zellengenossin aufgehängt. Jennys erste und eigentlich einzige Reaktion: Sie klaut der Toten die Zigaretten.

Klänge, die selbst Steine erweichen

Tief unter diesem zur Schau getragenen Hass auf die ganze Welt aber schlummert ein Talent, eine begnadete Begabung: Setzt sich diese junge Frau ans Klavier, entlockt sie dem Instrument Klänge, die selbst Steine erweichen würden. Traude Krüger kann das Mädchen nicht ausstehen, aber auch nicht aus ihrer Haut: Sie muss diese Gabe einfach fördern. Die beiden so völlig unterschiedlichen Frauen schließen einen Pakt: Ihre Beziehung bleibt rein sachlicher Natur, frei von Sympathie oder Antipathie; es geht nur um die Musik. Aber natürlich geht es schon bald um viel mehr, denn ungewollt helfen beide einander, sich endlich dem zu stellen, was sie nicht zur Ruhe kommen lässt: Traude ihrer unbewältigten Liebe, Jenny ihrem unbewältigten Leben.

Kaum vorstellbare acht Jahre hat Kraus in diesen Stoff investiert. Produzenten kamen und gingen, Jeanne Moreau stand schon für die Rolle der Traude fest, dann zog sie sich von dem Projekt zurück und damit kippte auch die Finanzierung. Kraus aber glaubte an seine Geschichte, fand neue Produzenten, ließ über tausend Mädchen als Jenny vorsprechen, entdeckte schließlich die praktische unbekannte Hannah Herzsprung und musste einigermaßen schockiert zur Kenntnis nehmen, dass sie ihn beim Casting dreist belogen hatte: Sie konnte kein bisschen Klavier spielen. Dank eines sechsmonatigen Unterrichts ist davon im Film nichts mehr zu sehen. Und so kann die Handlung in jenes furiose Finale münden, das man so schnell nicht vergessen wird: Allen Sabotageversuchen des Direktors (Stefan Kurt) und eines Wärters (Sven Pippig), dem sie besonders übel mitgespielt hat, zum Trotz schafft es Jenny bis in die letzte Runde von "Jugend musiziert" und hat, die Häscher auf den Fersen, gerade vier Minuten Zeit, um eine Variation von Schumanns A-Moll-Konzert darzubieten, wie man dies noch nie erlebt hat (komponiert von Annette Focks, eingespielt von Kae Shirati).

Kraus setzt damit den fulminanten Schlussakkord unter einen vorzüglich fotografierten Film (Kamera: Judith Kaufmann), der zwar selbst in Minirollen hochkarätig besetzt ist (unter anderem Nadja Uhl, Richy Müller und Vadim Glowna), aber selbstredend von seinen beiden Kontrapunkten lebt. Bleibtreu als alte Frau, gebückt unter der Last einer unvergessenen Schuld, und Herzsprung als junge Cholerikerin; die eine ein schlummernder Vulkan, die andere permanent kurz vor dem Ausbruch: Das muss man einfach gesehen haben.