Alles Schweigen soll gebrochen werden

Regen tropft von der Hand einer Statue.
Foto: imago/ZweiKameraden
In der Nordkirche soll das Schweigen über Missbrauch gebrochen werden.
Alles Schweigen soll gebrochen werden
Es ist fünf Jahre her, seit die Missbrauchsfälle an Kindern und Jugendlichen in kirchlichen Gemeinden, Schulen und Orden öffentlich wurden. Mit den Enthüllungen am Berliner Canisius-Kolleg fing alles an. Bis heute wird der Skandal vor allem als ein katholisches Problem wahrgenommen. Doch auch in der evangelischen Kirchengemeinde Ahrensburg nordöstlich von Hamburg fand Missbrauch an Konfirmanden und Heranwachsenden statt.

Sonntag morgen in der evangelischen Schloßkirche Ahrensburg. Den Gottesdienst hält Pastor Helgo Matthias Haak, Interviews gibt er aber nicht, weil er sich im Streit mit seiner Landeskirche und in einem so genannten Ungedeihlichkeitsverfahren befindet. Warum kann keiner so ganz genau sagen. Seine Gemeindeglieder können nur vermuten. Wohl, weil er sich gegen die Schließung der Johanniskirche wehrt, die ebenfalls zur Ahrensburger Gemeinde gehört. Wohl aber auch, weil er sich von Anfang an über die mangelhafte Aufarbeitung des Sexskandals in der Nordkirche beschwert hat.

Über die Missbrauchsvorfälle stürzte letztlich Regionalbischöfin Maria Jepsen, auch wenn die Staatsanwalt im anschließenden Prozess die Vorwürfe der Strafvereitelung fallen ließ. Mit ihrer Nachfolgerin Kirsten Fehrs sollte alles besser werden. Es wurde eine unabhängige Untersuchungskommission ins Leben gerufen, die im Oktober 2014 ihren 500 Seiten starken Bericht vorlegte, um Missbräuche künftig unmöglich zu machen. Zusätzlich wurde eine landeskirchliche Präventionsbeauftragte eingestellt. Doch Betroffene und Opfer sind nicht zufrieden.

Nur so viel verrät Pastor Haak im anschließenden Gespräch: Zusammen mit Familienangehörigen, anderen Haupt- und Ehrenamtlichen seien von den Missbrauchsfällen rund 300 Menschen direkt betroffen, letztlich aber jeder in der mehr als 10.000 Seelen großen Gemeinde. Denn vor fünf Jahren wurde bekannt, dass von 1973 bis in die 1990er Jahre hier die schlimmsten Missbrauchsfälle stattfanden. Ein riesiger öffentlicher Skandal. Nach dem Gottesdienst möchten ehemalige und heutige Gemeindeglieder immer noch darüber sprechen.

Eine Mutter erinnert sich, was ihre Tochter von der Konfirmandenfreizeit damals berichtete: "Dass der Pastor damals versuchte, über eine Leiter in den ersten Stock einzusteigen. Da fiel die Leiter um und er hat sich das Handgelenk gebrochen. Ich wollte den Pastor zur Rede stellen. Da hat meine Tochter gesagt: 'Mama, die ganzen Leute sind so begeistert von dem, der ist wie ein Halbgott.'"

"Es gab einen Gruppenkodex zu schweigen, nichts zu sagen"

Bis heute ist klar, dass es sich um mindestens zwei Pastoren als Täter handelte. Eine ehemalige Jugendliche kann sich noch genau erinnern und fragt sich heute: "War das eine Selektion? Da gab es Kinder, zu denen ich auch gehörte, denen war es ermöglicht, dass die einen guten Weg kriegen. Die anderen werfe ich meinem Kollegen zum Fraß vor? Mir geht es nicht um Rache, sondern um die Anerkennung dessen, dass es in diesem Ausmaß nicht ohne System hätte passieren können."

Es wirkt so, als würden sich die Menschen in Ahrensburg ihr Leid und ihren Druck weiterhin von der Seele reden wollen. Die evangelische Nordkirche hat sich nach Jahren des ersten Vertuschens dazu durchgerungen, die Geschehnisse von einer unabhängigen Kommission untersuchen zu lassen. Herausgekommen ist ein 500 Seiten-Bericht. Mittlerweile geht man von bis zu 20 Missbrauchsfällen aus, nicht nur in Ahrensburg. Täter waren auch Kirchenmusiker und Erzieher in Kindertagesstätten.

"Es ist Grund genug, so ein Verfahren anzustrengen, weil es vermutlich noch Hunderte sind, die von diesen Personen angegrabscht, bedrängt, mit Alkohol abgefüllt und unter Druck gesetzt wurden. Es gab einen Gruppenkodex zu schweigen, nichts zu sagen", sagt Ulrike Murmann, Pröpstin im Kirchenkreis Hamburg-Ost.

In der Nordkirche soll aber alles Schweigen gebrochen werden. Jede Kirchengemeinde ist aufgefordert, Strategien zu entwickeln, damit ein  Missbrauch nie wieder stattfinden kann, dass den Opfern endlich zugehört wird. Zusätzlich hat die Landeskirche eine eigene Präventionsbeauftragte eingestellt. Die Kriminologin und Psychologin Alke Arns reist in der großen Nordkirche zwischen Elbe, dänischer Grenze und der Oder im Osten weit herum, um möglichst viele Pfarrkonvente und Gemeinden zu erreichen.

"Es gibt keine festgeschriebene Check-Liste. Aber es gibt Situationen, die man beschreiben kann, zum Beispiel, dass Umkleiden nicht gemeinsam benutzt werden mit den Aufsichtspersonen, dass es nicht gemeinsames Duschen oder FKK gibt, dass es kein Saunieren zusammen gibt. Dass über persönliche sexuelle Erfahrungen von den Aufsichtspersonen mit den Kindern und Jugendlichen nicht gesprochen wird", sagt Arns.

Angemessene und individuelle Opferunterstützung

Natürlich könne man seine Konfirmanden weiterhin umarmen, aber man dürfe das den Jugendlichen nicht gegen ihren Willen aufdrängen. Es gehe jetzt nicht um eine übertriebene Misstrauenskultur, sondern um die Einhaltung von Grenzen. Wobei man sich immer klar sein müsse, dass bis zu 80 Prozent aller sexuellen Missbrauchsfälle in Familien stattfänden. In Institutionen wie Kirchengemeinden seien es lediglich rund 4 Prozent, aber das sei auch schon schlimm genug.

Pröpstin Ulrike Murmann erwartet nicht, dass jeder Pastor geschweige denn jedes Gemeindemitglied den Untersuchungsbericht der Landeskirche gelesen hat. Aber sie erwartet eine Sensibilisierung aller für das Thema: "Wie sehr achte ich darauf, dass es in meiner Kirchengemeinde keine dunklen Kellerräume gibt, in denen sich Dinge abspielen könnten, die Kinder und Jugendlichen gefährlich werden könnten."

Für die Opfer selbst ist eine Unterstützungsleistungskommission ins Leben gerufen worden. Die Opfer müssen nicht selbst aussagen, sondern können dafür so genannte Lotsen bestimmen, Pröpstin Murmann zum Beispiel. Es gehe nicht um eine pauschale Geldabspeisung, sondern um angemessene und individuelle Opferunterstützung. Für die Gemeinde Ahrensburg habe die Landeskirche somit also schon sehr viel zur Befriedung beigetragen, meint die Pröpstin.

"Die Betroffenen können diese Ereignisse nicht bewältigen, da heilt nicht die Zeit."

Nicht alle sind zufrieden. Anselm Kohn ist als eines der Opfer vor fünf Jahren an die Öffentlichkeit gegangen. Auch wenn Kirchenleitende immer wieder ihre Dankbarkeit dafür ausdrückten, so will doch mit Anselm Kohn heute nicht unbedingt jeder mehr sprechen. Auf der letzten Landessynode der Nordkirche zumindest durfte er nicht sprechen. Auch zwischen Landeskirche und Gemeinde Ahrensburg scheint die Kommunikation nicht optimal zu sein. Nur zwei Tage nach Veröffentlichung des 500-Seiten-Abschlussberichtes fand dort bereits eine öffentliche Veranstaltung statt, die für Kohn mehr eine Überrumpelung war.

"Die Leute in Ahrensburg sollten sich Zugang zu dieser PDF verschaffen, das möglicherweise ausdrucken, 500 Seiten lesen, um sich an der Diskussion zu beteiligen. Aus meiner Sicht ein abgeschmacktes Vorgehen", sagt Kohn.

In Ahrensburg ist die Gemeinde bis heute tief gespalten, der Gemeindekirchenrat ist im letzten Herbst zurückgetreten. Architekt Hans Peter Hansen, dessen Tochter auch zu den Opfern gehört, fordert mehr Unterstützung. Noch längst sei der Trauer- und Aufarbeitungsprozess nicht beendet: "Die Betroffenen können diese Ereignisse nicht bewältigen, da heilt nicht die Zeit."

Und es sollte längst eine Diskussion mit den Autoren des Abschlussberichtes in Ahrensburg stattgefunden haben. Nichts sei aber passiert. Hans Peter Hansen will die Landeskirche weiterhin in die Pflicht nehmen: "Die  Aktivitäten sind sehr zögerlich. Wir müssen in dieser Gemeinde völlig neu anfangen."