Mehr Zeit für den einzelnen Menschen

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Streik an der Charité in Berlin: Etwa 500 Pflegekräfte haben die Arbeit niedergelegt.
Mehr Zeit für den einzelnen Menschen
Es ist der wohl größte Streik, den je es an einem deutschen Krankenhaus gegeben hat. An der Charité Berlin haben nach Gewerkschaftsangaben bisher rund 500 Pflegekräfte ihre Arbeit niedergelegt - unbefristet. 200 Operationen mussten abgesagt werden, etwa 800 Betten blieben bisher leer. Beate Violet arbeitet als evangelische Krankenhausseelsorgerin auf dem Charité-Campus Mitte. Sie kennt die Probleme von Patienten und Pflegekräften und fordert Grundsatzentscheidungen vonseiten der Politik.

Die Pflegekräfte streiken für mehr Personal und damit letztlich auch für eine bessere Patientenversorgung. Dadurch wird vielen Patienten aber erstmal ihre medizinische Versorgung verwehrt. Fast 800 Betten bleiben momentan leer und 200 Operationen mussten bereits abgesagt werden. Wie gehen Pflegekräfte mit diesem Widerspruch um?

Beate Violet: Die Pflegekräfte haben selbst entschieden, ob sie sich an dem Streik beteiligen oder die Versorgung der Patienten mit aufrechterhalten. Es gibt eine große Solidarität. Ich glaube, sich zum Streik durchzuringen, das ist immer ein schwieriger Prozess. Aber die Situation in den Krankenhäusern zeigt überall, dass die Pflege sich verdichtet hat und die Arbeitsbelastungen gestiegen sind. An der Stelle hat man sich dann hier in der Charité für diesen Streik entschieden.

Gibt es unter den Patienten Verständnis für die Situation der Pflegekräfte?

Violet: Die Patienten, die hier sind, werden natürlich versorgt. Aber sie nehmen selbstverständlich wahr, dass die Pflegekräfte ihren Beruf unter sehr verdichteten Arbeitsbedingungen bewältigen müssen. Was sich Pflegende und auch Patienten wünschen, ist ja, dass mehr Zeit für die einzelnen Menschen bleibt.

Was ist für Pflegekräfte bei der Seelsorge besonders wichtig?

Violet: Was wir als Seelsorger natürlich immer wieder erleben, ist, dass die Mitarbeiter sehr dankbar für die Unterstützung sind, die wir auf den Stationen leisten: Dass wir eben auch ein offenes Ohr und Zeit mitbringen. Genau das muss medizinisches und pflegerisches Personal ja eigentlich auch den Patienten zu Verfügung stellen. Aufgrund der Arbeitsverdichtung können sie das aber nicht so tun, wie man es sich wünscht. In Gesprächen taucht immer wieder das Thema auf, dass die Personaldecke sehr dünn ist, dass Überstunden entstehen, dass Vertretungsdienste übernommen werden müssen...

Sind Sie im Seelsorge-Alltag auch mit Pflegekräften konfrontiert, die vor lauter Stress einfach nicht mehr weiter wissen?

Violet: Wir erleben durchaus, dass uns Pflegekräfte im Einzelnen sagen, dass sie sehr belastet sind. Im Seelsorge-Gespräch ist das allerdings nicht der Regelfall. Der Streik, der hier in der Charité stattfindet, zeigt ja ein grundsätzliches Problem in der Pflege an. Die Krankenhäuser stehen unter einem enormen Kosten- und Wettbewerbsdruck, dessen Auswirkungen sich nun zeigen. Das Wohl des Patienten muss immer im Vordergrund stehen, das ist das Anliegen aller Mitarbeitenden in der Charité.

Kann Seelsorge da noch was ausrichten oder ist hier eine Grenze erreicht, an der Politik und Wirtschaft nachgeben müssen?

Violet: Der Streik zeigt genau dieses Problem an. Eine verbesserte Personalausstattung ist dringend erforderlich. Es handelt sich um ein gesamtgesellschaftliches und gesundheitspolitisches Thema. Die Krankenhäuser haben einen vorgegebenen, strukturellen Rahmen. Das ist in der Kirche ähnlich, auch uns ist ein Rahmen vorgegeben und die Aufgabe ist, dass wir unsere Arbeit zum Wohle von Menschen machen. Aber wenn die Spielräume innerhalb dieses Rahmens zu klein werden, wie jetzt in der Pflege, dann muss über Prioritäten verhandelt werden und dann müssen Grundsatzentscheidungen getroffen werden.