Armenier und Türken: Der Konflikt reicht bis Köln

Foto: Helene Pawlitzki
Armenier und Türken: Der Konflikt reicht bis Köln
In diesen Tagen gedenken armenische Christen in aller Welt der Opfer des Völkermords durch das Osmanische Reich (heute Türkei) vor hundert Jahren. Die türkische Regierung bestreitet weiterhin, dass es sich um einen Genozid handelte. Ausgetragen wird dieser Konflikt überall, wo Armenier und Türken aufeinandertreffen – auch in Köln, dem Sitz der größten armenischen Kirchengemeinde Deutschlands.

Als der Gottesdienst beginnt, ist die Luft in der Surp Sahak Mesrop-Kirche bereits voller Nebel und Musik. Eine Stunde lang haben Pfarrer Hratsch Biliciyan und seine Diakone gesungen, immer im Wechsel. Drei Ministranten haben dazu Weihrauchgefäße geschwenkt. Als nun, um halb elf, die Vorfeier vorbei ist und der eigentliche Gottesdienst beginnt, kommen nach und nach immer mehr Menschen in die Kirche: große und kleine Familien, junge und alte Pärchen, Teenager mit ihren Freunden, Kinder mit ihren Großeltern. Am Ende des zweieinhalbstündigen Gottesdienstes wird die Kirche so voll sein, dass einige von ihnen keinen Sitzplatz mehr bekommen.

Gegenüber der Kirche hat die Orient-Teestube bereits geöffnet. Aber am Sonntagmorgen ist noch kaum einer hier, um in der Hürriyet zu blättern und türkisches Fernsehen zu schauen. Nur ein älterer Herr trinkt seinen Kaffee. Weder er noch der langjährige Inhaber sprechen allzu viel Deutsch. Auf die Frage, was das da drüben für eine Kirche sei – eine armenische vielleicht? – zucken sie mit den Schultern. Das wüssten sie nicht.

Tür an Tür mit Türken

Zur Orient-Teestube kann Minu Nikpay, die Vorsitzende der armenischen Gemeinde, eine Geschichte erzählen. In der ersten Zeit nach dem Einzug in die Kirche 1989 habe es immer wieder Fälle von Vandalismus gegeben. Die Kirche sei mit türkischen Schimpfwörtern beschmiert und mit Eiern beworfen worden. Einmal habe der damalige Priester einen jungen Mann dabei erwischt und ihn zur Rede stellen wollen. Doch der floh in die Orient-Teestube. Als der Priester ihm folgte, leugneten die Männer im Café, jemanden gesehen zu haben.

Minu Nikpay
 Erst als der Erzbischof einmal das Oberhaupt der örtlichen türkischen Gemeinde aufgesucht habe, hätten die Vorfälle aufgehört, so Nikpay. Die Surp Sahak Mesrop-Kirche in Köln ist zugleich Sitz der Diözese der Armenischen Kirche in Deutschland mit einem guten Dutzend Gemeinden. Die Gläubigen hier kommen nicht nur aus Köln, sondern auch aus vielen umliegenden Städten in Nordrhein-Westfalen. Sie feiern Gottesdienst, aber auch das Wiedersehen mit ihren Landsleuten.

"Man findet in der Gemeinde einen Halt", sagt die 61-jährige Ojik, die bereits seit 30 Jahren zur Gemeinde in Köln gehört und an diesem Sonntag im Chor singt. "Besonders wenn man - wie viele hier - fern von seinen Schwestern und Brüdern lebt." Ihr eigener Bruder wohnt in ihrem Heimatland Iran. Weniger als ein Drittel der etwa zehn Millionen Armenier auf der Welt lebt nach Angaben des armenischen Honorarkonsulats Baden-Württemberg in der Republik Armenien. Sie verteilen sich auf Russland und die Länder des früheren Ostblocks, die USA und Kanada, Frankreich und Griechenland, Iran, die Türkei und den Libanon – unter anderem. 50.000 bis 60.000 ethnische Armenier leben in Deutschland, schätzt die Botschaft in Berlin. Seit der Antike sind Armenier in aller Welt verstreut; die moderne Diaspora jedoch entstand in der Zeit des Ersten Weltkriegs. Eine Zeit, die von vielen Armeniern als die dunkelste ihrer Geschichte wahrgenommen wird.

Tabuthema: Genozid an den Armeniern

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten etwa 1,7 Millionen Armenier in Anatolien, dem Kernland des Osmanischen Reichs, der heutigen Türkei. Nach den Griechen waren sie die größte christliche Gemeinschaft im Land. Zwar waren sie vielerorts hochangesehen, bekleideten Staatsämter und trugen viel zur osmanischen Kultur bei. Trotzdem litten sie immer wieder unter Verfolgungen. Um 1900 herum intensivierte sich unter den Armeniern der Wunsch nach rechtlicher und politischer Gleichstellung. Die Idee eines eigenen Staats entstand. Pogrome und Massaker an den Armeniern nahmen daraufhin zu.

Als Beginn des Genozids an den Armeniern in der Türkei gilt heute der 24. April 1915. Unter Verantwortung der Jungtürken - einer Oppositionsbewegung der politischen Elite, die 1908 die Macht übernommen hatte - wurden in Istanbul über 200 wichtige armenische Persönlichkeiten wie Politiker, Journalisten, Schriftsteller, Geschäftsleute und Intellektuelle verhaftet. Aber bereits vorher hatte es Ermordungen, Vertreibungen und Deportationen gegeben, Armenier wurden als Kanonenfutter an die Kriegsfront geschickt oder auf Todesmärsche Richtung Syrien. Dass so mehr als eine Million Armenier umkamen, ist unter Forschern heute unstrittig. Doch bis heute ist das Thema in der Türkei tabu. Regierung, Justiz und Wissenschaft leugnen, dass es sich bei den "Ereignissen von 1915" – so die offizielle Sprachregelung – um einen Völkermord handelt.

Nicht nur in der Türkei – auch in Deutschland fehlte bisher offenbar der Mut, die Dinge beim Namen zu nennen. Erst kurz vor den Feiern zum 100. Jahrestag entschieden sich die Koalitionsparteien, in der Bundestagsdebatte am 24. April das Wort "Völkermord" zu verwenden. In dem Text von Union und SPD über die Vernichtung der Armenier heißt es jetzt: "Ihr Schicksal steht beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen und der Völkermorde, von denen das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gezeichnet ist." Bei dem Sinneswandel der Regierung könnte auch eine Rolle gespielt haben, dass Bundespräsident Joachim Gauck in seiner Rede am Donnerstag wohl ebenfalls von "Völkermord" sprechen wird.

Enttäuscht von europäischen Christen

Wer so deutliche Worte findet, riskiert Kritik von der Türkei oder von Türken – im Großen wie im Kleinen. "Wenn man heute als Armenierin irgendwo in Deutschland hinkommt, heißt es als erstes: Wir möchten unsere türkischen Mitbürger nicht verärgern", sagt Minu Nikpay, Gemeindevorsitzende in Köln. "Es ist furchtbar." Über den Genozid zu sprechen oder ihn gar zu verurteilen, sei mit einer großen Scheu verbunden. Dabei gehe es den Armeniern gar nicht darum, Türken zu verärgern: "Es ist nur ein unsagbares Unrecht uns gegenüber geschehen. Und dieses Unrecht wird bis heute geleugnet. Dadurch sind wir permanent in der Situation, uns rechtfertigen zu müssen." Das zehre an den Nerven, so Nikpay, und seufzt lächelnd: "Diese Energie könnten wir wirklich woanders gebrauchen."

Unter den Christen in der Surp Sahak Mesrop-Kirche scheint es allerdings an Energie nicht zu mangeln: Im Gemeindesaal geht es laut und lebhaft zu. Nach dem langen Gottesdienst haben sich alle zum gemeinsamen Mittagessen versammelt. Es gibt gefüllte Auberginen, Paprika und Weinblätter. Über Geschirrklappern und angeregte Unterhaltung hinweg kündigt Minu Nikpay die vielen Veranstaltungen in diesem Gedenkjahr an: Konzerte, Podiumsdiskussionen, Andachten, Filmvorführungen. "Ihr wisst ja, das ist eine runde Jahreszahl", ruft sie. "Da werden sich die Zeitschriften überschlagen. Hinterher wird sich wieder keiner mehr um uns kümmern."

Pfarrer Hratsch Biliciyan hält das Evangelium in den Händen. Am Ende des Gottesdienstes werden alle das Buch küssen, die Kinder dürfen zuerst.
Die Resignation unter armenischen Christen ist groß. Darüber, immer selbst das Thema ansprechen zu müssen, um das die Gedanken kreisen. Darüber, nach 100 Jahren immer noch keine Entschuldigung von der Türkei gehört zu haben. Darüber, dass die Nähe zu den Christen in Europa doch geringer ist als vermutet. Das ist enttäuschend – gerade deshalb, weil das Christentum für die Armenier zentraler Identifikationspunkt war und ist. "Wir Christen im Orient denken immer: Die europäischen Christen stehen hinter uns – dabei tun sie das nicht", sagt Minu Nikpay. "Die haben uns im Stich gelassen."

Zusammenarbeit, Ökumene und Austausch sind den armenischen Christen wichtig. "Wir pflegen hier unsere Kultur", sagt Chorsängerin Ojik, "aber wir isolieren uns nicht." Sie berichtet von gemeinsamen Konzerten mit anderen Kölner Gemeinden. "Gemeinsam singen, sich austauschen – besser geht es doch gar nicht!" Und wirklich: Wenn unter den Gottesdienstbesuchern neue Gesichter auftauchen, gehen die Gemeindemitglieder offen auf sie zu, reichen ihnen ein Gesangbuch, fragen, woher sie kommen, laden zum gemeinsamen Mittagessen ein. Zu der evangelischen Nachbargemeinde pflege man ein gutes Verhältnis, sagt Pfarrer Hratsch Biliciyan, und beim Seelsorgertreff tausche er sich mit seinen evangelischen und katholischen Kollegen aus. Seine Gemeinde engagiert sich in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) in Köln.

Erinnern und mahnen

Doch an anderer Stelle pflanzt sich das Misstrauen fort. Tayfun Keltek jedenfalls empfindet die Stimmung als feindselig: "Wenn man einen türkischen Hintergrund hat, verurteilen einen die Armenier für die Sünden der Eltern", beklagt er. Keltek ist in der Türkei geboren und kam in den 1970er Jahren zum Studium nach Köln. Seit 2005 sitzt er dem Integrationsrat der Stadt Köln vor, dessen Mitglied auch die Armenierin Minu Nikpay einige Jahre lang war – er für die SPD, sie für die CDU. "Die jetzige Generation sollte man nicht dafür verantwortlich machen, was damals passiert ist", sagt Keltek und betont, es gebe auch Armenier in seinem Bekanntenkreis. Dass sie "übersensibel" seien, könne er gut verstehen. Falls es tatsächlich Fälle von Vandalismus gegen die armenische Kirche gegeben habe, sei er damit nicht einverstanden: "Ich verurteile alles, was Menschen aufgrund ihrer ethnischen oder religiösen Herkunft angetan wird."

"Remember and demand" – erinnern und fordern, lautet der internationale Slogan des Gedenkjahrs 2015. Auch die Armenische Gemeinde in Köln wird sich daran halten. Mit Bussen werden die Gemeindemitglieder am 24. April zur zentralen Gedenkveranstaltung in die Frankfurter Paulskirche fahren. Und mit einer E-Mail-Kampagne wollen sie die Mitglieder des Bundestags dazu auffordern, in ihrem Antrag den Völkermord zu verurteilen.

Wie leben armenische Christen heute in der Türkei? In unserer Bildergalerie zeigen wir die Fotoreportage "Hay" von Emine Akbaba, die die Rückkehr einer wachsenden Anzahl Armenier in Istanbul zu ihren Wurzeln und ihrer Identität dokumentiert hat.