"Deutsche Mitschuld am Armenier-Genozid klar benennen"

Foto: epd-bild / Norbert Neetz
"Deutsche Mitschuld am Armenier-Genozid klar benennen"
Am Vorabend des 100. Jahrestages werden christlichen Kirchen in Deutschland in einem ökumenischen Gottesdienst an den Völkermord an den Armeniern erinnern. "Wir sind es den Kindern und Enkeln der Überlebenden schuldig, die deutsche Mitschuld am Genozid klar zu benennen", sagte die Synodenpräses der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Irmgard Schwaetzer, in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Am 24. April 1915 begann im damaligen Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, die Masseninhaftierung und anschließende Deportation der intellektuellen, politischen und kulturellen Elite der Armenier. Diese bildeten den Auftakt für Massentötungen, denen nach Untersuchungen unabhängiger Historiker in den Jahren 1915 und 1916 mehr als eine Million Menschen zum Opfer fielen.

Mehr als eine Million Armenier wurden vor 100 Jahren im Osmanischen Reich systematisch verfolgt und in den Tod getrieben. Das Deutsche Reich, mit dem Osmanischen Reich im Ersten Weltkrieg verbündet, hat nichts unternommen, um diesen Völkermord zu verhindern. Hat sich Deutschland dieser historischen Verantwortung ausreichend gestellt?

Irmgard Schwaetzer: Es ist wichtig, an den Völkermord zu erinnern, zu dessen Opfern neben den Armeniern auch 600.000 Aramäer und Pontos-Griechen zählten. Die Historiker haben gezeigt, dass es eine eigene deutsche Schuldgeschichte gibt. Einzelne, wie der evangelische Theologe Johannes Lepsius, setzten sich für die Armenier ein. Doch die damalige Reichsregierung nahm wissend in Kauf, was geschah - und blieb untätig. Die Synode und der Rat der EKD haben sich bereits vor einem Jahrzehnt dazu klar geäußert: Angesichts der deutschen Mitwisserschaft um den Genozid und der daraus resultierenden deutschen Mitschuld bat der damalige Ratsvorsitzende Bischof Huber das armenische Volk um Verzeihung. Der Deutsche Bundestag hat 2005 auf die historische und moralische Verantwortung Deutschlands hingewiesen.

Am 24. April wird weltweit der offizielle Gedenktag begangen. Im Berliner Dom gedenken am Vorabend die Evangelische Kirche in Deutschland, die katholische Deutsche Bischofskonferenz und die Armenische Kirche in einem ökumenischen Gottesdienst der Opfer des Massakers an den armenischen Christen. Ist dies auch eine Mahnung an die Politik, die deutsche Mitschuld an den Ereignisse von 1915 und 1916 deutlicher beim Namen zu nennen?

Schwaetzer: Wir sind es den Kindern und Enkeln der Überlebenden schuldig, die deutsche Mitschuld am Genozid klar zu benennen. Wir sind deshalb sehr dankbar, dass der Bundespräsident der Einladung nachgekommen ist, im Anschluss an den Gottesdienst im Gedenken an den Genozid sprechen. Von einer solchen Rede kann ein starkes Signal für die intensive Auseinandersetzung mit dem Völkermord ausgehen.

Sehen Sie denn bei der türkischen Staatsführung Bereitschaft, die Vertreibung und Vernichtung der Armenier 1915 und 1916 realistisch zu bewerten und nicht zu verschweigen?

Schwaetzer: Nach meiner Einschätzung gibt es einen - wenn auch zögerlichen - Wandel in der türkischen Politik im Umgang mit der Thematik. Die Erklärung Erdogans vor einem Jahr, in der er erstmals den Enkeln der Opfer der Massaker Beileid aussprach, hat viele überrascht. Allerdings entsprechen manche Worte des türkischen Ministerpräsidenten danach noch immer nicht einer realistischen Bewertung dessen, was 1915 geschah.