"Demenz ist noch immer ein Tabu-Thema"

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"Demenz ist noch immer ein Tabu-Thema"
Was heißt es, an Demenz zu erkranken? Wo können Betroffene und Angehörige Hilfe finden und vor welchen Aufgaben stehen wir als Gesellschaft? Die EKD hat zusammen mit der Diakonie am Donnerstag einen Text veröffentlicht, der praktische Hilfe und Unterstützung im Umgang mit Demenz bietet. Ein Gespräch mit Friederike von Borstel, die für die Haltestelle Diakonie Berlin arbeitet.

Demenz ist ein Thema, vor dem viele Angst haben. Warum müssen wir uns trotzdem damit beschäftigen?

Friederike von Borstel: Zum einen sollte sich jeder selbst damit beschäftigen, weil man vielleicht Menschen im eigenen Umfeld hat, die an Demenz erkrankt sind und man sich darauf einstellen muss, wie man damit umgehen kann. Es ist wichtig zu erfahren, wie man trotz der Erkrankung mit der betroffenen Person noch in Kontakt treten kann. Außerdem ist es natürlich gut, wenn man die ersten Anzeichen kennt oder wie Symptome sich auswirken, um auch frühzeitig handeln zu können.

Zum anderen muss die Gesellschaft das Thema präsent haben, um entsprechend reagieren zu können. Das fängt bei kleinen Dingen an: Auch Verkäuferinnen in Geschäften müssen wissen, wie sie auf Menschen mit Demenz reagieren, genauso wie die Polizei, Rettungskräfte und viele andere. Und wir brauchen mehr Angebote, damit Menschen mit Demenz betreut und begleitet werden.

Demenz ist ein Thema, dass uns in den nächsten zwanzig Jahren sehr stark strukturell und auch persönlich betreffen wird.

EKD und Diakonie haben jetzt den Text "Wenn die alte Welt verlernt wird – Umgang mit Demenz als gemeinsame Aufgabe" veröffentlicht. An wen richtet sich die Broschüre und was bietet sie?

von Borstel: Die Broschüre richtet sich an jeden. Sie kann Ratgeber sein für den betroffenen Einzelnen aber auch für Angehörige, die sich schon mitten in der Pflegesituation befinden. Hier vermittelt die Broschüre auch, dass man sich nicht vollständig aufopfern muss und immer noch das Recht auf ein eigenes Leben hat. Das wird auch aus der Perspektive der christlichen Ethik begründet, dass es wichtig ist, auf sich selbst zu achten und dass man seinen Nächsten nur lieben kann, wenn man sich selbst liebt.

Die Broschüre ist zudem für Kirchengemeinden eine Anregung, sich für das Thema zu öffnen und weitere Angebote zu erarbeiten. Es gibt einen Überblick über rechtliche Aspekte und zum Schluss auch Forderungen an die Politik.

Die Broschüre hat also einen allumfassenden Ansatz, ist  aber gleichzeitig so geschrieben, dass man alles relativ gut verstehen kann und einen guten Überblick zum Thema bekommt.

"Die Begegnung mit Menschen mit Demenz kann berührend sein"

In der Broschüre gibt es Beispiele von durchaus auch humorvollen Begegnungen mit dementiell erkrankten Menschen und der Gedanke wird formuliert, dass die Krankheit anregen kann, mehr im Hier und Jetzt zu leben.

von Borstel: Im Anfangsstadium ist eine Demenzerkrankung natürlich sehr beängstigend, schließlich geht etwas von einem verloren, die Persönlichkeit verschwindet in Teilen. Aber es bleibt auch eine Menge, wenn man dafür offen ist und es gibt durchaus humorvolle Situationen, das erleben auch die Ehrenamtlichen hier in der Diakonie Haltestelle in Berlin. Deswegen habe ich mich dafür entschieden, nicht über unsere Arbeit als solche zu schreiben, sondern anhand von zwei Beispielen zu zeigen, wie berührend die Begegnung mit Menschen mit Demenz sein kann. Aber im Alltag ist das als Betroffener oder Angehöriger natürlich viel schwieriger.

Was ist besonders schwierig im Umgang mit Menschen mit Demenz?

von Borstel: Eine dementielle Erkrankung kommt schleichend. Wenn Sie mit anderen Menschen zusammenleben, dann entstehen viele Missverständnisse bevor überhaupt klar ist, dass es sich um eine dementielle Erkrankung handelt. Einfach weil der andere sich anders verhält oder reagiert als man das gewohnt ist. Sich nicht zurückgewiesen zu fühlen, ist für Angehörige von Betroffenen sehr schwierig und die Krankheit ist für alle ein sehr großer Lernprozess.

Dabei ist es auch wichtig, die Selbstbestimmung von Menschen mit Demenz zu achten.

von Borstel: Gerade im Anfangsstadium einer Demenzerkrankung kann man noch vieles selbst. Wenn andere auf einen eingehen können, dann kann man viele Dinge auch intuitiv über große Zeiträume bewältigen. Verhaltensauffälligkeiten im Zuge der Erkrankung können dazu führen, das andere sagen „Du kannst das nicht, du machst das nicht richtig“ und dadurch fühlt sich der Betroffene nicht angenommen. Das kann zu negativen Gefühlen führen, die bewirken, dass man sich kleiner und schwächer macht als man vielleicht wirklich ist.

Ab einem gewissen Punkt ist die Demenz natürlich schon weit fortgeschritten. Aber dann haben Partner und Angehörige oft schon eine Strategie entwickelt, miteinander umzugehen.

"Es hilft, darüber zu sprechen"

Was raten sie Menschen, die an Demenz erkrankt sind? Was kann in der schwierigen Anfangsphase helfen?

von Borstel: In erster Linie hilft es, darüber zu sprechen, besonders mit Menschen aus dem eigenen Umfeld. Auch damit den anderen klar wird, warum gewisse Situationen schwierig sind. Dann muss man sich auch gewissen Entscheidungen stellen: Wer ist für mich da, wer kümmert sich ab wann um meine Finanzen, wo will ich leben, wie lange möchte ich noch zu Hause sein? So lange man kann, sollte man mit anderen Vereinbarungen treffen und darüber sprechen. Es wird zwar viel über die Krankheit gesprochen, aber für jeden Einzelnen ist Demenz noch immer ein Tabu-Thema.

Warum ist das so?

von Borstel: Weil Demenz immer mit Kontrollverlust einhergeht. Wir sind als Menschen darauf konditioniert, Kontrolle zu haben und keiner möchte sich so entblößen. Zuzugeben, dass man krank ist und Unterstützung braucht, das macht keiner gerne. Und trotzdem möchte man auch nicht wie ein kleines Kind behandelt werden, das gehört auch noch dazu.

Was haben Sie für Angebote in der Diakonie Haltestelle?

von Borstel: Die Diakonie Haltestellen sind ein Angebot für Menschen mit Demenz, die eine individuelle Begleitung und Betreuung haben wollen. Das heißt qualifizierte Ehrenamtliche besuchen Menschen mit Demenz zu Hause und machen mit demjenigen zusammen, was er gerne machen möchte. Das kann Spazieren gehen sein, ein Spiel spielen oder Kaffee trinken. Wir bieten aber auch Betreuungsgruppen an. Da kommt man mit anderen zusammen und wird ebenfalls von Ehrenamtlichen betreut. Bei diesen Angeboten sind auch die Angehörigen für eine gewisse Zeit entlastet.

Wie bereiten Sie die Ehrenamtlichen auf ihre Aufgabe vor?

von Borstel: Das wichtigste Thema bei unserer zentralen Schulung ist, wie mit einem Menschen mit Demenz kommuniziert wird. Die Ehrenamtlichen müssen wissen in welcher Lebenswelt Menschen mit Demenz leben, denn diese Menschen verlieren vielleicht ihre kognitiven Fähigkeiten, aber dafür sind ihre emotionalen Fähigkeiten sehr ausgeprägt. Und dass muss man wissen, um auf ihre Bedürfnisse nach Nähe und Zuwendung eingehen zu können.

Was muss von politischer Seite getan werden, um auch in Zukunft mit dem Thema in unserer Gesellschaft gut umgehen zu können?

von Borstel: Aus der Sicht meines Fachbereiches Pflege und Altenarbeit gehört dazu, dass wir die Pflegekräfte gut bezahlen können. Gerade im ambulanten Bereich gibt es da eindeutig Schwierigkeiten.

Der Forderung nach guten, qualifizierten Fachkräften kann man dauerhaft nicht gerecht werden, wenn Pflege im Grunde nichts wert ist, also auch in der Bezahlung nichts wert ist. Das ist ein gesellschaftliches Problem. Wir brauchen Engagementbereiche, aber wir brauchen natürlich auch Profis, die das alles miteinander vernetzen. Wir brauchen gute Netzwerke vor Ort, die erkennen, wer Unterstützung benötigt, ob zum Beispiel Wohnungen neu angepasst werden müssen, wo was verändert werden muss. Es gibt zwar einzelne Modellprojekte, aber nicht flächendeckend. Gerade im Bereich, wenn schon Hilfe nötig ist, aber die Pflegeversicherung noch nicht in Anspruch genommen werden kann, muss noch viel passieren.