Jedes Kind trägt seinen Koffer

Foto: Lilith Becker
Jedes Kind trägt seinen Koffer
"Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solcher ist das Reich Gottes", steht im Matthäusevangelium (19,14). Heute kommen viele Kinder erst einmal am Flughafen oder am Bahnhof an: Allein haben sie sich als Flüchtlinge in den reichen Westen durchgeschlagen. Im evangelischen Jugendhaus Heideplatz in Frankfurt finden sie eine Zuflucht.

Athir* hätte gerne einen der bunten Blechvögel. Er hat so lustige große Augen und wackelt so schön. Der 16-jährige Athir kokettiert und will die anderen Jungs in seinem Alter beim Mittagessen zum Lachen bringen. Einige gehen mit ihm an die Theke, zum Küchenchef, der die Deko auf den Tischen verteilt hat. Die Jungs grinsen und folgen interessiert dem kleinen Schauspiel: Athir eifert in gebrochenem Deutsch um das Deko-Spielzeug.

Sie kommen aus Marokko, aus Afghanistan, aus dem Kosovo oder aus Syrien. Sie sind minderjährig und haben ihre Eltern und Geschwister verlassen, um in den Westen zu ziehen. In die reichen Länder, die ihnen eine bessere Chance bieten sollen. Sie sind Kinder und viele von ihnen haben den Tod ihrer engsten Familienangehörigen oder von Freunden erlebt, die Zerstörung ihres Zuhauses, die Ausbeutung durch Schleuser. Sie haben entbehrt und gehungert, auf vielfältige Art gelitten.

Jedes Kind hat einen Auftrag

"Die Stadt wurde 2014 überrollt", sagt Michael Krings, der für den Evangelischen Verein für Jugendsozialarbeit in Frankfurt Minderjährige betreut, die es aus Afrika oder dem Nahen Osten alleine bis nach Deutschland geschafft haben. Die beiden Clearingstellen in Frankfurt und Gießen, die das Land Hessen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) geschaffen hat, können die vielen Jugendlichen, die seit kurzem kommen, nicht mehr aufnehmen. 1.500 Jugendliche strandeten 2014 alleine in Frankfurt.

Die Jugendämter müssen deshalb andere Wege gehen. Die Stadt Frankfurt mietete im Jahr 2014 zahlreiche Hotelzimmer an, um die Jugendlichen unterzubringen. Freie Träger, wie auch der Evangelische Verein, sagten Hilfe zu und betreuen die Jugendlichen, die nach dem Sozialgesetzbuch als Minderjährige in Obhut genommen werden müssen, während ihres Clearingverfahrens.

Im Clearingverfahren versuchen Jugendamt und Ausländerbehörde zu klären, wie alt die Kinder sind, wo sie herkommen, ob sie gesund sind und welche Fluchtgeschichte sie haben. Im Anschluss daran entscheiden die Ämter, ob ein Vormund bestellt wird, ein Asylantrag gestellt werden kann oder ob die Jugendlichen als volljährig anzusehen sind und sich ab nun als Erwachsene alleine durchschlagen müssen.

Michael Krings erzählt von einem Jungen, der von der Bundespolizei am Hauptbahnhof aufgegriffen und auf einer Holzpritsche zusammengekauert liegen gelassen wurde, bis Krings vor Ort ankam, um ihn abzuholen. "Wir arbeiten eigentlich gut mit Polizei und Jugendämtern zusammen", sagt Michael Krings. Trotzdem passieren solche unschönen Szenen. In Frankfurt stranden seit mehr als zwei Jahrzehnten junge Menschen, die auf ein besseres Leben hoffen. Ihre migrationspolitische Situation ist aber nach wie vor ungeklärt: Sie fallen unter Jugendhilfe, haben aber dennoch keinen sicheren Aufenthaltsstatus, sind Geduldete. Bei allen Beteiligten wächst zudem die Unsicherheit aufgrund der gestiegenen Zahl von ankommenden Menschen.

"Das Leben besteht nur aus Momenten"

"Die Allermeisten haben keine Papiere mehr"  sagt Irmela Wiesinger vom Bundesfachverband für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BUMF). "Die Allermeisten haben außerdem einen Auftrag." Sie sollen ein besseres Leben führen als ihre Eltern. Sie sollen eine gute Ausbildung machen, Arzt oder Automechaniker werden, sie sollen das Flucht-Geld zurückzahlen, für das sich viele Familien hoch verschuldet haben. "Auf den Kindern lastet ein enormer Druck von verschiedenen Seiten", sagt Irmela Wiesinger. "Viele können sich deshalb, hier angekommen, auch gar nicht auf Schule und Bildung einlassen, weil sie jobben müssen, um ihre Schulden abzubezahlen."

Das Team des Evangelischen Vereins will den Druck von den Kindern nehmen und sie so viel wie möglich ins Hier und Jetzt ziehen. Mit Deutschunterricht am Morgen, gemeinsamen Mittagessen, Museumsbesuchen oder Sportangeboten am Nachmittag. Auch Trauma-Therapien oder einen Besuch beim Augenarzt vermitteln die Betreuer den Jugendlichen. "Jedes Kind braucht etwas anderes, hat seinen eigenen kulturellen Hintergrund, seine eigenen Fluchterfahrungen", sagt Darya Holstein vom Jugendmigrationsdienst des Evangelischen Vereins. Jedes Kind trägt seinen eigenen Koffer.

Jugendhaus Heideplatz: Hier bekommen die Jugendlichen ihren Deutschunterricht. Hier können sie nachmittags Basketball spielen, tanzen oder Musik machen. In der Mädchentoilette: drei weiße Kunststoffkabinen, angeschmiert mit Kugelschreibern und Filzstiften. Mit Edding steht dort geschrieben: "Das Leben besteht nur aus Momenten. Aber mir kommt es auf jeden an. Denn die Momente dauern immerhin mein ganzes Leben an." - Jugendphilosophie, die trifft, was die Menschen des Evangelischen Vereins hier für die ihnen anvertrauten Menschen erreichen wollen.

Auf einer Holzpritsche am Boden

"24 Stunden am Tag - das war unsere Bedingung", sagt Michael Krings. Eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung, damit die oft komplex traumatisierten Jugendlichen einen stabilen Rahmen erhalten. "Wir müssen die Jugendlichen fordern", sagt Michael Krings, sein Team will mit der 24-Stunden Betreuung verhindern, dass die Jugendlichen in ihren oft traumatischen Erinnerungen versinken, Drogen nehmen, in kriminelle Milieus geraten.

Das Team will jeden Moment so schön und hoffnungsvoll wie möglich gestalten, die Kinder sollen wenigstens hier in Deutschland nicht weiter traumatisiert werden. Die Würde der jungen Menschen werde manchmal nicht allzu ernst genommen, sagt Darya Holstein. "Das Fotografieren der primären Geschlechtsmerkmale, um das Alter der Kinder herauszufinden, ist im Rahmen des Clearingverfahrens in zwei Bundesländern noch Praxis." Dabei sei der erste Eindruck, den ein Kind von einem Land bekomme, doch so entscheidend.

Jedes Einzelschicksal braucht Aufmerksamkeit, jeder Flüchtling braucht das Glück an Menschen zu geraten, die sich ihm zuwenden. Nur zwölf Jugendliche kann der Evangelischen Verein betreuen. Aber deren Schicksal können sie zumindest ein kleines Stück weit auf gute Weise mitbegleiten. Sami aus Syrien gehörte zu den ersten, die der Evangelische Verein 2014 innerhalb seines 24-Stunden-Programms betreute. Er hat nun eine eigene Wohnung in Frankfurt und kann hoffentlich bald mit der Ausbildung beginnen. Er hat mit dem Jugendhaus Heideplatz nun einen Anlaufpunkt, Menschen, mit denen er sprechen kann, die ihm Gutes tun wollen. Damit hat er mehr als viele andere, deren Flucht noch nicht zu Ende ist. Oftmals werden sie bis zur Volljährigkeit geduldet und sollen dann abgeschoben werden.

Der Küchenchef schüttelt den Kopf. Athir darf den Vogel nicht behalten. Er lamentiert, die Jungs lachen. Was ist schon ein Spielzeug, das man nicht bekommt, für einen lustigen Moment ohne Sorgen? Ganz im Hier und Jetzt.

*Der Name ist zum Schutz des Jugendlichen geändert