Ein zutiefst evangelisches Versprechen

Anne und Nikolaus Schneider
Foto: epd-bild / Rolf Zöllner
Anne und Nikolaus Schneider
Ein zutiefst evangelisches Versprechen
Sollte Anne Schneider wegen ihrer Krebserkrankung Sterbehilfe in Anspruch nehmen wollen, will ihr Mann Nikolaus ihr beistehen - obwohl er Sterbehilfe ablehnt. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) würde damit den protestantischen Grundsätzen einer ethischen Urteilsbildung konsequent folgen. Ein Gastbeitrag von Ethikprofessor Reiner Anselm aus Göttingen.

"Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei" - wenn es überhaupt eines Belegs für die Berechtigung dieser biblischen Überzeugung bedurft hätte, dann wäre er geliefert worden durch die Interviews, die der Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider jüngst gemeinsam mit seiner plötzlich schwer an Krebs erkrankten Frau gab: Die Interviews zeugen zunächst einmal davon, dass sich einer solchen existenziell bedrohlichen Herausforderung besser und wohl auch zuversichtlicher ins Auge sehen lässt, wenn man sich ihr nicht allein stellen muss.

Doch es kommt noch etwas hinzu. Der Ratsvorsitzende und seine Frau setzen im Blick auf die zur Debatte stehende Frage, nämlich ob aktive Sterbehilfe als letztes Zeichen der Liebe und des gegenseitigen Respekts erlaubt sein könne, unterschiedliche Akzente. So gegensätzlich diese sind, so sehr machen sie gemeinsam genau das aus, was eine spezifisch evangelische Herangehensweise zu dieser Fragestellung sein kann und sollte. Denn sie verflechten zweierlei miteinander: den unbedingten Respekt vor dem menschlichen Leben und die Überzeugung, dass die Liebe zum Nächsten der Maßstab ist, an dem sich alles christliche Handeln messen lassen muss.

Die Zusicherung von Nikolaus Schneider, seiner Frau gegen die eigene Überzeugung, aber aus Liebe letztlich Zugang zu aktiver Sterbehilfe verschaffen zu wollen, falls sie dies ausdrücklich wünschen sollte, mag auf den ersten Blick inkonsequent oder paradox erscheinen. Diese Bereitschaft verdient aber nicht nur Respekt, sondern ist auch zutiefst evangelisch. Hier zeigt sich, was eine Lebensführung aus dem Geist des Protestantismus ausmacht. Eine solche Lebensführung ist zunächst und vor allem eine Lebensführung aus Freiheit. Diese Freiheit bedeutet weder Willkür noch Beliebigkeit, sondern verwirklicht sich in der persönlichen Stellungnahme zu vorgegeben Gütern. Dazu zählen zum Beispiel der Schutz des menschlichen Lebens, aber auch die Liebe zum Nächsten oder Verantwortungsbereitschaft und Zuverlässigkeit.

Christliche Freiheit entfaltet sich im Einzelfall

In der Auseinandersetzung mit solchermaßen vorgegebenen Gütern und in ihrer jeweils persönlichen Aneignung bildet sich eine individuelle Lebensführung heraus. Beides ist also gleichermaßen notwendig: die Ausrichtung an vorgegebenen Gütern und die Ausbildung einer persönlichen Haltung zu diesen vorgegebenen Gütern, einer eigenen Stellungnahme zu ihnen. Fehlte die Ausrichtung an vorgegebenen Gütern, so verfiele die Freiheit zu einer Willkür, die stets mit sich selbst und dem Gewinnen immer neuer Handlungsmuster und Maßstäbe beschäftigt sein müsste. Fehlte die eigene Stellungnahme zu diesen vorgegebenen Gütern, dann liefe man Gefahr, sich unkritisch an traditionell vorgegebenen, abstrakten Wertvorstellungen zu orientieren, die den konkreten, individuellen Bedürfnissen von Einzelnen nicht mehr gerecht werden könnten.

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Die Aufgabe der Kirche in ethischen Fragen besteht nun darin, jene Güter zu tradieren und beständig weiterzuentwickeln, mit denen der Einzelne sich auseinandersetzen muss, damit sein individuelles Handeln zu einer verantwortungsvollen persönlichen Stellungnahme aus Freiheit werden kann. Die Kirche kann aber weder dem Einzelnen vorschreiben, wie er dem christlichen Glauben gemäß im Einzelfall zu leben und zu entscheiden hat, noch kann sie ihn aus der Verantwortung entlassen, selbst eine der jeweiligen Situation angemessene Entscheidung treffen zu müssen. Und dabei kann es durchaus zu einer Konstellation kommen, in der der Respekt vor dem Nächsten und die Liebe zu anvertrauten Menschen die von der Kirche vertretenen Güter infrage stellt. Dabei geht es allerdings nicht darum, die Geltung dieser Güter grundsätzlich infrage zu stellen. Vielmehr sieht sich der Einzelne durch die Wahrnehmung einer konkreten, ganz individuellen Situation dazu genötigt, diese grundsätzliche Geltung für diesen Einzelfall außer Kraft zu setzen. In der verantwortungsbewussten Wahrnehmung solcher Grenzfälle entfaltet sich christliche Freiheit, die zugleich darum weiß, dass Entscheidungen in solchen Grenzfällen niemals zur generellen Norm werden können.

Nikolaus Schneider hat das gemeinsam mit seiner Frau Anne beispielhaft zum Ausdruck gebracht. Er steht – als Christ, Pfarrer und Ratsvorsitzender ohne jeden Zweifel für den Schutz des Lebens ein. Gleichzeitig aber hat er ebenso als Christ, Mitmensch und Ehemann die besondere Situation, die Ängste und Befürchtungen seiner Frau im Blick. Zur evangelischen Freiheit und zur evangelischen Verantwortung gegenüber dem konkreten Nächsten gehört es, sowohl zu der eigenen Überzeugung und der Anwaltschaft für die leitenden Güter zu stehen als auch das Handeln an dessen Bedürfnissen auszurichten. Am Ende des Lebens kann es zu Situationen kommen, in denen die Wahrung der eigenen Würde und Identität nur durch den Verzicht auf das eigene Leben möglich scheint.

Zu hoffen bleibt, dass der Grenzfall nicht eintritt

Außenstehende mögen in einer solchen Konstellation anders werten. Für denjenigen, der handeln muss, wird dagegen die übergeordnete Vorstellung zurücktreten hinter die Wahrnehmung der Not des Einzelnen. Dessen Not zu lindern, ist dann oberstes Gebot und höchstes Gut. Das mag im individuellen Fall die Sterbehilfe als ein letztes Mittel einschließen. Dies bedeutet aber gerade nicht, dass damit der Lebensschutz als hohes Gut aufgeweicht wäre. Vielmehr kann das Gut des Lebensschutzes ja nur dann aufrechterhalten und entschieden vertreten werden, wenn es Mechanismen gibt, die vermeiden, dass in Grenzfällen das Gut des Lebensschutzes in das Übel eines unbarmherzigen Weiterlebens und Weiterleben-Müssens umschlägt.

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Menschen können und müssen ihr Sterben gestalten. Ihnen dabei Hilfe und Beistand anzubieten, ist ein hohes Gut in humanen Gesellschaften. Der eigentliche Skandal ist daher nicht die Kommerzialisierung der Sterbehilfe, sondern die weitgehende gesellschaftliche Tabuisierung von Hilfe im Ausnahmefall. Vielleicht stößt die Position des Ehepaars Schneider hier die Tür auf zu einer neuen Debatte. Zu wünschen wäre es. Und zu hoffen bleibt, dass der hier erwogene Grenzfall dank eines milden Verlaufs der Krankheit von Anne Schneider nicht eintritt.