Gustav Heinemann: Anwalt der "Bekennenden Kirche"

Gustav Heinemann
© epd-bild / Keystone
Gustav Heinemann: Anwalt der "Bekennenden Kirche"
Zum Jahrestag des Stauffenberg-Attentats auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 erinnern wir in einer Serie an Widerstandskämpfer, die im evangelischen Glauben verwurzelt waren. Gustav Heinemann (1899-1976) engagierte sich in seiner Essener Heimatgemeinde gegen die Machtansprüche der sogenannten "Deutschen Christen". Zugleich wurde er zu einem führenden Mitarbeiter der "Bekennenden Kirche" im ganzen Reich. Sein Widerstand an der Basis zeigt, wie groß der Spielraum auch "normalsterblicher" Hitler-Gegner war. 1969 wurde der Name Gustav Heinemann weltweit bekannt.

Einen solchen Wahlkrimi hatte es um das höchste Staatsamt noch nie gegeben: Es ist der 5. März 1969. Die westdeutsche Bundesversammlung ist – zum Unwillen der DDR – in Westberlin zusammengekommen, um den dritten Bundespräsidenten der BRD zu wählen. Zur Wahl stehen zwei Bundesminister: beide Juristen, beide evangelisch. Gut dreißig Jahre früher war der Konservativere der beiden Mitglied der NSDAP gewesen. Der andere hatte auf Seiten der Bekennenden Kirche gegen die Nazis gekämpft.

Drei Wahlgänge und acht Stunden braucht es, bis das Ergebnis feststeht: Gerhard Schröder (CDU) ist unterlegen. Gustav Heinemann (SPD) ist der neue Bundespräsident. Damit ist zugleich der erste Schritt hin zu einer sozialliberalen Koalition geglückt.

Wer war dieser damals 70-jährige Christ und Sozialdemokrat, der sich schon bald als "Bürgerpräsident" hohen Respekt erwerben sollte? Welche Rolle hatte er im Widerstand gegen Hitler gespielt?

1933, zu Beginn der Nazi-Herrschaft war Gustav W. Heinemann 34 Jahre alt, Familienvater, zweifacher Doktor, Anwalt und zugleich leitender Mitarbeiter der Rheinischen Stahlwerke in Essen.

Den künftigen Diktator Adolf Hitler hatte Heinemann schon 1920 erlebt. Damals war er Jurastudent gewesen und hatte sich für die republiktreue Deutsche Demokratische Partei (DDP) von Max Weber und Friedrich Naumannengagiert. In München war er Zeuge einer Hetzrede des nur zehn Jahre älteren Hitler gewesen und hatte seinem Zorn durch Zwischenrufe Luft gemacht. Daraufhin hatten ihn zwei Nazi-Ordner aus dem Saal geworfen.

Vom Kirchenskeptiker zur "Säule der Gemeinde"

Der DDP-Sympathisant aus Essen hätte damals wohl kaum vermutet, dass er 13 Jahre später, am 29. November 1933, einen Brief an den mittlerweile Reichskanzler gewordenen Hitler verfassen würde. In diesem Brief schildert Heinemann die Repressalien, denen die evangeliumstreuen Theologen der "Bekennenden Kirche" vonseiten der nationalsozialistischen "Deutschen Christen" ausgeliefert waren – in der Hoffnung, dass diese abgestellt würden.

Zur evangelischen Kirche hatte Heinemann, der später in der Bundesrepublik so oft seinen Glauben an "Gottes Weltregiment" bekannte, erst spät gefunden. Es war wohl das praktische Beispiel einzelner Christen, das ihm, dem Religionsskeptiker, um 1930 den Weg zum kirchlichen Engagement ebnete.

Vor allem Friedrich Graeber, Pastor der evangelisch-reformierten Gemeinde in Essen-Altstadt, imponierte ihm. Graeber war nicht nur ein guter Seelsorger, sondern führte offene Dispute mit anderen Weltanschauungen und engagierte sich tatkräftig für die Essener Arbeitslosen – unter anderem, indem er mitten im Ruhrgebiet einen Bauernhof, eine Art Landkommune, anlegte, die den Arbeitslosen-Familien etwas vom Sinn des Lebens zurück gab.

Bald schon unterstützte Gustav Heinemann den Pfarrer, wo er nur konnte. Das Christentum wurde dem Anwalt und Manager zur Grundlage seines weiteren Lebens. Ein Fundament, für das er zu kämpfen bereit war, wie sich bald zeigen sollte.

In der Opposition gegen den Nazi-Reichsbischof

Als Hitlers Gefolgsleute in den evangelischen Landeskirchen, die sogenannten "Deutschen Christen", eine zentralisierte Reichskirche schufen, die sie mittels eines "Reichsbischofs" umfassend kontrollieren wollten, wehrten sich viele – auch in der Gemeinde Essen-Altstadt. Pfarrer Graeber war von Anfang an ein aktiver Teil der innerkirchlichen Opposition, die sich schon bald "Bekennende Kirche" (BK) nannte.

Für diese Strömung ließ sich Gustav Heinemann in den Vorstand der Kirchengemeinde wählen. Er unterstützte die Flugblatt-Aktionen von Pfarrer Graeber, indem er ein Spendenkonto einrichtete und setzte sich bei der Kirchenleitung für diejenigen Pfarrer ein, die nicht hinnehmen wollten, dass die kirchliche Jugendarbeit in der Hitler-Jugend aufging.

Im Januar 1934 erfolgte dann der Bruch: Pfarrer Graeber verlas im Gottesdienst eine Widerstandserklärung gegen den Nazi-Reichsbischof. Als er daraufhin suspendiert wurde, löste er gemeinsam mit Presbyter Gustav Heinemann die Gemeinde Essen-Altstadt aus dem Kirchenverbund und machte sie selbständig: Heinemann pachtete einen Saal in der Börse, schaffte 800 Stühle, eine Kanzel und ein Harmonium an und organisierte Spenden für das Pfarrergehalt. Dort ging das Gemeindeleben weiter – unabhängig vom Reichsbischof. Auch so konnte Widerstand gegen die Nazis aussehen.

Eine Führungsfigur der "Bekennenden Kirche"

Aber Gustav Heinemann war nicht nur auf Gemeindeebene aktiv. Als juristischer Sachverständiger und Mitglied des "Bruderrates" nahm er an allen wichtigen Synoden der Bekennenden Kirche teil. So war er neben dem Theologen Karl Barth einer der Mitautoren der berühmten "Barmer Theologische Erklärung" von 1934. Im Keller seines Hauses in Essen wurden die BK-Publikation "Briefe zur Lage" hergestellt – unter strenger Geheimhaltung.

Um die Jahreswende 1936/37 jedoch fragte sich Heinemann immer stärker, ob die Bekennende Kirche an der richtigen Front kämpfe. Das Abhalten von Sitzungen und das feierliche Protestieren seien letztlich harmlose Aktionen, erklärte er, als er im August 1938 alle seine BK-Ämter niederlegte.

Ab sofort konzentrierte sich der Presbyter Heinemann auf die Arbeit in seiner Essener Kirchengemeinde, die er durch Bibelkurse, Predigten und Lehrvorträge stärken und von den Nazis unabhängig halten wollte. Demselben Zweck diente auch seine Arbeit für den Christlichen Verein Junger Männer (CVJM) in Essen, dessen Vorsitz er 1937 übernommen hatte.

Nachkriegszeit: Minister wider Willen

Heinemanns starker Impuls, an der Basis zu bleiben, äußerte sich auch in der Nachkriegszeit: Seit Oktober 1946 Oberbürgermeister von Essen, ließ er sich nur ungern darauf ein, Justizminister des neuen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen zu werden. Wenig später gab er dieses Amt wieder ab – zugunsten seiner Heimatstadt.

Doch schon bald darauf wurde er in die Bundespolitik gedrängt: 1949 bis 1950 als CDU-Innenminister der ersten Bundesregierung, nach dem Bruch mit Konrad Adenauer als Gründer einer neuen Partei. Als diese scheiterte, trat Heinemann, damals ein wichtiger Repräsentant der Evangelischen Kirche in Deutschland, der SPD bei. Als Bundesjustizminister reformierte er ab 1966 das Strafrecht, bevor er 1969 zum Staatsoberhaupt gewählt wurde. Auf eine zweite Amtszeit verzichtete er – auch hierin ein Vorbild seines politischen Meisterschülers Johannes Rau. Vor 35 Jahren, am 7. Juli 1976, ist Gustav Heinemann in Essen gestorben.