Sprache der Vielen

Sprache der Vielen
Die Apostelgeschichte erzählt zu Pfingsten von der Verschiedenheit der Sprachen und von einem plötzlichen Verstehen. Solche Momente gibt es bis heute.

Manchmal, wenn mir meine eigene Muttersprache zu eng oder zu streng erscheint, mich nach dem Spielen am Abend allzu früh ins Haus ruft, dann leihe ich mir Worte aus anderen Muttersprachen. Dann schleiche ich mich ein in andere Wortfamilien, höre auf neue Stimmen, Zwischentöne, Färbungen. Dann schlage ich im Wörterbuch nach oder erinnere mich an schon einmal Gehörtes und verstehe: So kann man das also auch noch sagen. So kann man also auch leben, fühlen, glauben. Die Verschiedenheit der Sprachen und das voneinander lernen und leihen dürfen, das macht mich reich. Immer wieder.

Einmal las ich die kleine Legende von einem europäischen Stammesforscher, der afrikanische Kinder zu einem Spiel einlud: An einen Baum stellte er einen Korb voll frischer Früchte. Dann sagte er zu den Kindern: „Wer als erster dort ist, gewinnt das ganze Obst.“ Auf sein Startsignal fassten sich alle Kinder an die Hände und liefen gemeinsam dem Korb entgegen, sie setzten sich unter den Baum und teilten alle Früchte miteinander. Der Stammesforscher war erstaunt. „Warum habt ihr das getan? Es hätte doch einer von euch alles bekommen können.“ Da antworteten die Kinder: „Ubuntu“. Das bedeutet so viel wie: „Ich bin, weil wir sind.“ Wie hätte einer von ihnen froh sein können, wenn die anderen es nicht wären?

Oder im Flugzeug: Zuerst wünscht man mir auf Deutsch „Einen guten Flug“, kurz darauf heißt es auf Englisch „Enjoy your flight“. Was auf Deutsch ein bisschen nach „Hals- und Beinbruch“ klingt, fühlt sich im Englischen eher nach einer Einladung zum Genuss ein. Genieße dein Über-den-Wolken-sein. – Mache ich gerne.

Im Zeitschriftenregal, in modernen Cafés und auf Lifestyle-Seiten auf Facebook finden meine Augen seit geraumer Zeit immer wieder das dänische Wort „Hygge.“ Es lässt sich nicht nur simpel mit dem deutschen Begriff „Gemütlichkeit“ übersetzen, denn eigentlich beschreibt es viel eher eine Atmosphäre, die man selbst erleben muss. Ein von Kerzenlicht erfüllter Raum. Der Duft von ofenwarmen Zimtschnecken. Das Gefühl: Die ganze Familie versammelt sich. Es ist gut für uns gesorgt. Niemand geht leer aus. Das Glück zieht ein und bleibt. „Hygge“ wird inzwischen so inflationär gebraucht, dass man vermuten könnte, dass es eine große Sehnsucht gibt nach ebendiesem Gefühl, das sich nur mit „Hygge“ beschreiben lässt.  

Sehr verbreitet außerdem: Hakuna Matata. Ein Spruch aus der afrikanischen Sprache Swahili. Vielen wohl erst bekannt geworden durch Disneys Dschungelbuch. Übersetzt bedeutet es so viel wie: „Es gibt kein Problem.“ Und beschreibt die Grundannahme: Die Sorgen bleiben fern. Wie anders es sich mit dieser Haltung, dieser Lebensphilosophie, doch leben ließe.

Natürlich kennt auch die deutsche Sprache Worte, die für uns sehr eindeutig mit Gefühlen besetzt sind und sich daher auch nicht so einfach übersetzen lassen. Heimat, Fernweh, mutterseelenallein. Wie viel ärmer wären wir ohne diese Worte?

So gibt es tausende solcher Begriffe in ganz unterschiedlichen Sprachen, die beschreiben, wie man leben und lieben kann, hoffen und glauben. Sie verraten eine Menge über die Menschen und zeigen in einer Welt voller Widersprüche, dass es in aller Verschiedenheit doch viel Verbindendes gibt. Vielleicht kennt nicht jede Sprache jedes Wort, doch ein ähnliches Fühlen und Erleben, das ist über Länder- und Sprachgrenzen hinweg immer wieder spürbar. Und wir dürfen voneinander lernen und leihen: Worte und Haltung.

Daran denke ich heute besonders. An Pfingsten. Am Geburtstag der Kirche. 50 Tage nach Ostern. Fest des Heiligen Geistes. „Heiliger Geist“ – auch so ein vertrauter Ausdruck, der sich wohl am ehesten in ein Gefühl oder eine Erfahrung übersetzen ließe. In aller Verschiedenheit: verbindend. Ansteckend, aufweckend, anhaltend – gestern, heute und morgen. Frohe Pfingsten!

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