Was, das bleibt

Was, das bleibt
Wer eine Kinderferienfreizeit leitet, übernimmt viel Verantwortung und wird gleichzeitig reich beschenkt.

Es gibt Zeiten, die haften ein Leben lang in Kopf und Herz. Vieles gerät in Vergessenheit, aber ein paar Momente lassen sich über Jahre hinweg immer wieder abrufen. Und auf einmal ist man wieder klein. Oder verliebt. Oder krank. Oder auf Reisen. Auf einmal ist alles wieder da. Ein Geschmack, ein Geruch, ein Gefühl.

Vergangene Woche auf der Nordseeinsel Ameland: Zum zehnten Mal in Folge begleite ich eine Kinderferienfreizeit. Nach Ameland, auf dieses wunderschöne Fleckchen Erde, bin ich schon gefahren, als ich selbst noch klein war. Herbstferien am Meer, organisiert von meiner Gemeinde, zählen für mich zu den wertvollsten Kindheitserinnerungen. Seit zehn Jahren gebe ich nun an Kinder weiter, was mich damals selbst so sehr beglückte. Ich schenke ihnen, gemeinsam mit vielen, vielen anderen jungen Erwachsenen, eine Woche Abenteuer. Verreisen ohne Eltern. Lagerfeuer am Strand. Lieder gegen das Heimweh und Kühlpacks für die Stirn. Waldgeländespiele unterm Sternenhimmel. Streuselbrote zum Frühstück. Radfahren zum Leuchtturm. Ein Zuhause auf Zeit.

Ich schenke ihnen Kindheitserinnerungen.

Mehrmals sitze ich in dieser Woche beim Abendbrot mit sieben Kindern an einem Tisch, schaue ihnen beim Essen zu und denke: Das hier werden sie nicht so schnell vergessen. Immer wieder läuft jemand in die Küche und holt Nachschub: Brot, Salami, Käse. Besonders vierzehnjährige Jungs sind selten satt. Immer wieder kippt ein Becher um und das Gemisch aus Wasser und Instantpulver, das hier alle nur „Plörre“ nennen, ergießt sich über den Tisch. Immer wieder prustet ein Kind los und die anderen sechs können sich kaum auf den Stühlen halten vor Lachen. Ich lache mit ihnen. Und habe dabei ein flattriges Herz. Weil ich so sehr ahnen kann, was diese Kinder gerade fühlen. Was sie erzählen werden, wenn sie nach einer Woche mit wenig Schlaf und mehr oder weniger ungeduscht nach Hause zurückkehren werden. Woran sie sich erinnern werden. Manche vielleicht in Jahren noch.

Und ich fühle Verantwortung. Alles, was ich in dieser Woche sage oder tue, prägt die Erinnerungen dieser Kinder.

Auf Instagram gibt es den Hashtag #unseralltagistihrekindheit, unter dem sich vor allem junge Eltern gegenseitig daran erinnern, dass sie mit allem, was sie tun und lassen, das Leben ihrer Kinder prägen. Bei manchen mag das in verbissene Erziehungsmaßnahmen ausarten, bei anderen stärkt es das Bewusstsein, dass gute Kindheitserinnerungen, heilsam wie heiße Schokolade, über schlechte Zeiten des Lebens hinwegtrösten können. Und dass es an ihnen liegt, ihren Kindern diese Erinnerungen zu schenken. Nicht immer gelingt das. Sorgen prägen auch. Manches hinterlässt Narben. Nicht jedes Kind wächst in Bullerbü auf oder verbringt seine Ferien auf Ameland.

Und vielleicht fühle ich deswegen Verantwortung. Auch über diese Kinderferienfreizeit hinaus. Denn ich lebe nicht allein in dieser Welt. Ich bin umgeben von Menschen. Manche von ihnen tragen Narben. Sichtbar und unsichtbar. Ich habe längst keine Lösungen für alle politischen Fragen und gewaltsamen Auseinandersetzungen. Aber ich habe ein Herz. Und ich bin beschenkt mit guten Erinnerungen, mit einem Glauben, der trägt. Mit Sehnsucht, aber auch mit Zuversicht. Und damit reich.  Und ich glaube, so geht das Vielen. Dieser Reichtum reicht für mehr als das eigene Leben. Man kann etwas davon abgeben. Schenkend sein. Nicht bloß als Eltern oder Leiterin einer Kinderferienfreizeit, sondern eigentlich immer genau da, wo man gerade ist.

Das bedeutet Verantwortung. Aber auch größtes Glück.

 

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