Zuhause auf der Sonnenallee

Zuhause auf der Sonnenallee
Die Straße, die quer durch Neukölln führt, ist Problemkiez und Szeneviertel zugleich. Dabei ermöglicht sie Begegnung mit der ganzen Welt.

Wenn ich Vielfalt vermisse, und das kann schon mal passieren, wenn die Haut der Filterblase um mich herum zu dick geworden ist, dann laufe ich die Sonnenallee entlang. Dann lasse ich den Bus der Linie M41 an mir vorbeifahren und gehe zu Fuß durch Neukölln. Meistens bin ich auf diese Weise sogar schneller, weil ich mir nicht erst den Weg durch zurückstauende Autos bahnen muss. Doch mehr noch als die Schnelligkeit schätze ich die Vielfalt, die ich so erlebe. Sie begegnet mir an jeder Straßenecke.

Die Sonnenallee ist die Straße, die einmal Ost- und Westberlin voneinander trennte, die ich lange Zeit nur aus dem gleichnamigen Film kannte, und die mich heute nach Hause führt. Immer wieder. Und die Sonnenallee ist auch die Straße, die mich mit der Welt in Verbindung bringt und mit der großen Gemeinschaft an Menschen, die auf ihr leben.  Wer Vielfalt sucht, findet sie hier. Denn hier sind alle zu Hause: Syrer, Libanesen, Palästinenser, Deutsche, Spanier und Franzosen. Und wenige Straßenzüge weiter Türken, Kroaten, Russen und viele, viele andere Nationalitäten.

Die Sonnenallee riecht und klingt wie ein Bazar im fernen Orient und erinnert gleichzeitig an einen Art-House-Film mit deutschen Untertiteln. Shisha-Rauch und der Duft von herrlich-klebrigem Baklava liegen in der Luft. Händler bieten frisches Gemüse an. In den Rixdorfer Bierstuben wird Karaoke gesungen. Falafel Halloumi gibt’s auf die Hand. Im Hipsterbart klebt die Sesamsoße. Der Biomarkt an der Ecke ist immer gut besucht. Kartoffeln und Spargel aus Brandenburg gibt es hier. An der Kasse unterhalten sich die weiße Frau mit dem Säugling im Buggy und die schwarze Frau mit dem Säugling im Tragetuch auf Französisch. Jedes dritte Geschäft ist ein Brautmodeladen. Geheiratet wird auf der Sonnenallee oft. Mit viel Hupen und viel Tüll. Im Café Espera gibt es Kaffee aus der Siebträgermaschine und karamellisierte Salzmandeln. „Espera“ bedeutet auf Portugiesisch „Warten“. Das tun hier viele. Manche auf bessere Zeiten.  

Denn es  ist nicht immer alles sonnig auf der Sonnenallee. Seit einigen Jahren wird sie auch „Schara al Arab“ – „Arabische Straße“ genannt und das finden längst nicht alle gut, vor allem die nicht, die sich durch die hohe Zahl der Zuwanderer aus dem eigenen Stadtteil gedrängt fühlen. Es gibt Drogendeals und Raubüberfälle. Viele Menschen haben keine Arbeit, sind enttäuscht vom Leben, wissen nichts mit ihrer Energie und Zeit anzufangen und werden kriminell. Es ist nicht immer alles sonnig auf der Sonnenallee. Und doch gibt es Sonnenmomente, die mich und viele andere bleiben lassen.

Vor ein paar Monaten: Ich sitze in einem kleinen Straßencafé, trinke einen Espresso und beobachte das Treiben um mich herum. Der ältere Herr neben mir zeigt zum Himmel und sagt „Frühling“. Ich nicke und wir beide lächeln. Zum Abschied nimmt er mein Tablett mit rein. Der Begriff „Arabischer Frühling“ bekommt für mich auf der Sonnenallee eine neue Bedeutung.

Vielleicht hätte ich es bequemer haben können und beschaulicher, wäre ich nicht nach Neukölln gezogen. Aber vielleicht wäre meine Angst vor dem Fremden auch größer und meine Ahnung kleiner davon, wie bunt die Welt doch ist. Und was für ein Segen Vielfalt ist.

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