Zwischen Abschied und Ankunft

Zwischen Abschied und Ankunft
Foto: Rainer Hörmann
Mit einem Gottesdienst wurde in der Berliner Gedächtniskirche an Menschen mit HIV gedacht: an die, die mit der Immunschwächekrankheit leben, und die, die an ihr starben. Ein Nachklang zum Welt-Aids-Tag.

Wer am 1. Dezember zum abendlichen Gottesdienst in die Berliner Gedächtniskirche wollte, musste vorbei an den zahlreichen hell erleuchteten Buden des Weihnachtsmarktes, die das Gotteshaus auf dem Breitscheidplatz zu dieser Jahreszeit umstellen. Vorbei an Glühwein- und Bratwurstduft, durch mehr oder weniger fröhlichen Lärm, hinein in die stille und durch die bläulichen Fensterwände stets kühl, meist unterkühlt wirkende Atmosphäre des Nachkriegsbaus. Selbst wenn der Raum gefüllt ist, lässt er die Menschen klein erscheinen, und wäre nicht die große Christusstatue darüber platziert, man würde den Altar kaum bemerken. Umso erfreulicher, wie die Anwesenden den unwirklichen Raum an diesem Abend erfüllten, mit ihrer Trauer, ihrer Hoffnung, ihrer Anteilnahme, ihrem Engagement, ihrer Solidarität, mit ihrem Glauben. Am 1. Dezember, dem Welt-Aids-Tag.

Platziert zwischen dem Gedenkmonat November und der Adventszeit ist auch der Gottesdienst eine Mischung aus Erinnerung an die Menschen, die an der Immunschwächekrankheit starben, und der zuversichtlichen Vorausschau und der Hoffnung auf Veränderung. Die Wut, die einst bei solchen Anlässen zu spüren war, scheint einer Melancholie, die Frage nach dem Warum in all den Jahren einem tapferen „So ist es“ gewichen.

Das Robert Koch Institut schätzt die Zahl der Menschen mit HIV in Deutschland auf rund 84.700. Die am stärksten betroffene Gruppe sind weiterhin schwule und bisexuelle Männer (oder, wie es offiziell heißen muss, Männer, die Sex mit Männern haben: MSM). Etwa 3.200 Menschen haben sich 2015 neu infiziert, die Zahl ist gegenüber den Vorjahren unverändert. Davon erfolgten 2.200 bei MSM. In dieser Gruppe lässt sich eine leicht rückläufige Tendenz feststellen. 750 wurden auf heterosexuellem Wege übertragen, 250 bei intravenösem Drogenkonsum. Für 2015 wird die Zahl der Todesfälle bei HIV-Infizierten auf 460 geschätzt.

Weltweit wird die Zahl der mit HIV-infizierten Menschen auf 37 Millionen geschätzt, die Zahl der Neuinfektionen auf 2,1 Millionen. Afrika südlich der Sahara ist unverändert die am stärksten betroffene Region. UNAIDS zufolge ist dort aber auch durch Aufklärung und besseren Zugang zu Medikamenten die Zahl der Neuinfektionen seit dem Jahrtausendwechsel um 41 Prozent gesunken. Dagegen steigen die Zahlen in Osteuropa, etwa in Russland. Hier erfolgen die meisten Neuinfektionen in der Gruppe der Drogengebraucher und unter Menschen mit heterosexuellem Geschlechtsverkehr. Eine repressive, auf Stigmatisierung und Tabuisierung setzende Politik verhindert auch hier die so wichtige Aufklärung und medizinische Therapien. UNAIDS, die Aids-Organisation der Vereinten Nationen, hält derweil am Ziel fest, bis 2030 die Aids-Epidemie zu beenden.

In seiner Predigt ging der Hamburger Aids-Seelsorger Detlev Gause auf dieses Vorhaben ein. Unüberhörbar waren aber seine Zweifel, dass, obwohl die finanziellen wie medizinischen Mittel zur Verfügung stehen, die Weltgemeinschaft den nötigen Willen zu dessen Umsetzung aufbringt. Zuvor war für jeden Kontinent eine Kerze entzündet und auf dem Altar platziert worden, um so die weltweite Verbundenheit zu symbolisieren. Die Licht-Symbolik war auch Teil des persönlichen Gedenkens: Beim Kerzengang wurden Teelichter in mit Wasser gefüllte Zinkwannen gesetzt. Die mit großem Gespür von Sänger Eric Lee Johnson ausgewählten und vorgetragenen Lieder - am Piano begleitet von Dimitrios Grydakis - korrespondierten erhellend mit den Kirchenliedern - an der Orgel Jonas Sandmeier - wie auch etwa dem ausgewählten Psalm 126, immer schwankend zwischen Trauer und dem Mut und der Lust, weiterzuleben - im Glauben an bessere Tage. Der Gottesdienst wurde gestaltet von der Ökumenischen Aids-Initiative Kirche positHIV, geleitet von Pfarrerin Dorothea Strauß sowie Christopher Jage-Bowler, Pfarrer der St. George’s Anglican Church, und Bruder Gregor Wagner, OFM.

Beim Verlassen des Gottesdienstes musste man wieder vorbei an den Buden des Weihnachtsmarktes - aus der blau unterkühlten Unwirklichkeit des Kirchenraumes in die Unwirklichkeit der Großstadt mit ihrer Überfülle, die Gemütlichkeit inszeniert. In mir klingt „Days of Plenty“ nach. Das Lied, das Eric Lee Johnson zum Abschluss sang, erinnert an eine Verstorbene, an das Weiterleben und die unermüdliche Anstrengung, das Andenken und den Glauben zu bewahren: “You have to believe / there is reason for hope / You have to believe / that the answers will come / You can’t let this defeat you / You must fight to keep her there within you!”

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