Die Frage der Woche, Folge 85: Verlieren wir die Erinnerung?

Die Frage der Woche, Folge 85: Verlieren wir die Erinnerung?
Heute ist der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Es ist ein wichtiger Tag.

Manche sagen, es wird schon nicht wieder passieren. Sie sagen, man muss das ja nicht jedes Jahr machen. Sie sagen, andere Völker haben ja auch Verbrechen begangen. Sie sagen, so viele Opfer waren es ja gar nicht. Sie sagen, die Deutschen müssten sich auch selbst mal als Opfer begreifen. Als wären die Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen, Künstler, Widerständler, die von den Nationalsozialisten umgebracht wurden, keine Deutschen gewesen.

72 Jahre ist es her, dass Truppen der Roten Armee das Konzentrationslager Auschwitz befreiten. Der Tag ist heute der Gedenktag an die Opfer des Holocaust. Die russischen Soldaten fanden mehrere Tausend unterernährte, kranke Gefangene vor. Sie waren die letzten der rund 6 Millionen Opfer des Holocaust. (Historiker schätzen die Opferzahlen zwischen 5,6 und 6,3 Millionen.)

Die versuchte Vernichtung aller Juden und die systematische Ermordung von Menschen, die irgendwie anders waren oder sich nicht dem faschistischen Regime der Nationalsozialisten unterwerfen wollten, steht bis heute als ein unfassbares Fanal am Anfang der neuesten Menscheitsgeschichte. Die Mordmaschine der Nationalsozialisten ist einzigartig in der Geschichte. Eine solche geplante, berechnete Vernichtung von Leben, das "anders" ist, darf nie wieder passieren.

Wir dürfen die Erinnerung daran nicht sterben lassen. 72 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz sind die meisten Zeitzeugen tot. Es gibt fast niemanden mehr, der aus seinen eigenen Erinnerungen erzählen kann. In den Gedenkstätten auf der ganzen Welt sind ihre Zeugnisse aber festgehalten: in Briefen, in Bildern, in Tönen, in Filmen, auch online.

Trotzdem sind die Gräuel unserer Vorfahren für manche Menschen nicht mehr Geschichte, sondern nur noch Geschichten. Der furchtbare menschliche Preis, den die Nationalsozialisten für ihre Herrschaft verlangten, wird relativiert, als eine Gruselepisode in der Mordgeschichte der Menschheit abgetan, in eine vergleichende Reihe gestellt.

Aber für die Unmenschlichkeit der Nazis gibt es keine Vergleiche. Denn es ist nicht nur die Zahl der Opfer, die unvergleichlich ist. Es ist vor allem der systematische Wunsch, die Menschheit mit Gewalt nach einem einheitlichen Bild zu formen. Die Vorstellung von Über- und Untermenschen darf nie wieder so viel Macht über Leben und Tod bekommen.

Ich werde in diesem Jahr 35 Jahre alt. Das Ende des Holocaust ist mehr als doppelt so lange her, wie ich auf der Welt bin. Die Folgen der braunen Schreckensherrschaft haben meine unmittelbare Familie nur am Rande berührt - Helmut Kohls "Gnade der späten Geburt" trifft auch mich. Aber selbst keine Schuld zu tragen, heißt nicht, keine Verantwortung zu haben. Wer den Holocaust auch nur ansatzweise relativiert, normalisiert, kleinredet, handelt verantwortungslos. Vor den Opfern und vor der Erinnerung der Deutschen.

Deswegen, an diesem und an jedem 27. Januar: Nie wieder.

Deswegen, wenn wieder einer von einer "neuen Erinnerungskultur" schwadroniert: Nie wieder.

#WeRemember


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