Das Heimtrainer-Syndrom

Das Heimtrainer-Syndrom
Alles dreht sich immer schneller, aber voran kommen wir kaum. Sascha Lobo beschreibt den chaotischen Aktionismus nach der Silvesternacht, in dem Treibende und Getriebene manchmal die gleichen Personen sind. Eine US-Serie zeigt unfreiwillig, wie hartnäckig der Stillstand sein kann. Und die Türkei geht noch weiter. Dort gilt: Rückschritt statt Stillstand. Das neueste Mittel der Wahl: die staatlich gebilligte Prügelstrafe.

Inzwischen schreiben wir den 5. Januar, aber unter welchen Umständen in der Silvesternacht vor dem Kölner Hauptbahnhof nichts passiert ist, konnte noch immer nicht geklärt werden. Die gute Nachricht ist: Erörtert ist trotzdem schon alles. Das geht ja mittlerweile innerhalb von Stunden.

„Die Öffentlichkeit hält in Zeiten emotionaler Sofortmedien das Nichtwissen einfach nicht aus. Zu jedem Schnipsel muss eine Meinung gebildet werden und eine Bewertung - sofort. Das Abwägen, das Warten auf Fakten, das Einordnen neuer Wendungen wird übersprungen, weil das alles dem goldenen Sofort umständlich im Weg steht“,

schreibt Sascha Lobo in seiner Spiegel-Online-Kolumne und schickt einen weiteren Kandidaten in das noch immer nicht entschiedene Rennen um das Unwort des Jahres 2017 (Altpapier vom Dienstag). Sein Vorschlag lautet: Sofortpolitik.

Die Akteure muss man sich dabei ungefähr vorstellen wie einen von Knallfröschen aufgescheuchten Hühnerhaufen in einem viel zu kleinen Käfig. 

„Nicht mehr bloß der politische Apparat, sondern die gesamte, digitale Debattenöffentlichkeit gestaltet die Sofortpolitik und damit eine Reihe interessanter bis schlimmer Prinzipien. Alle können damit Teil der Sofortpolitik werden, das ist gleichzeitig Verheißung und Verstörung.“

Und wer weiterhin ratlos ist, was damit gemeint ist, könnte heute auf die dritte Seite der FAZ schauen. Dort schreibt Reiner Burger über die rätselhaften Folgen der Kölner Silvesternacht. Dazu hat er unter anderem mit Alice Schwarzer gesprochen, die zwar auch nicht viel mehr weiß als alle anderen, aber dafür eine Vermutung hat, die sich anscheinend anfühlt wie eine Gewissheit.

"Dieselbe Sorte Mann wie vor einem Jahr legte es darauf an, in Köln auf ihre Art zu 'feiern'. Es handelt sich um entwurzelte, brutalisierte und islamisierte junge Männer vorwiegend aus Algerien und Marokko. Wäre die Polizei diesmal nicht von Anfang an konsequent eingeschritten, wären wieder Hunderte Frauen mit sexueller Gewalt aus dem öffentlichen Raum verjagt und die 'hilflosen' Männer an ihrer Seite wären wieder gedemütigt worden.“

Wenn man Alice Schwarzers Aussagen auf die gesicherten Fakten reduziert, ist man wieder fast so weit wie am Anfang. Alles dreht sich immer schneller, aber so richtig kommen wir trotzdem nicht weiter. Vorschlag für eine andere Beschreibung des Phänomens wäre vielleicht: das Heimtrainer-Syndrom

Der Titel „Rasender Stillstand“ würde auch ganz gut passen. Aber den hat der Medientheoretiker Paul Virilio leider schon vor 27 Jahren für einen Essay verwendet, der zu seinem bekanntesten wurde. Glücklicherweise ist Virilio am gestrigen Mittwoch 85 Jahre alt geworden - Christian Meier schreibt in der Welt darüber -, deswegen können wir den Essay-Titel hier trotzdem erwähnen. Virilio hat vorausgesagt, wohin das irgendwann führen wird, wenn die Technologie das Tempo immer weiter erhöht. „Die technologisch herbeigeführte Beschleunigung unserer Zivilisation (…) werde zu deren Niedergang, wenn nicht gar ihrer Auslöschung führen.“ So fasst Christian Meier es zusammen.

Und da ist es dann ja fast schon wieder beruhigend, wenn man in dieser rasanten und vor Ungeduld platzenden Zeit etwas Zuflucht in der Vertrautheit der üblichen Vorgehensweise findet. Wie in einem bei der Stuttgarter Zeitung erschienenen dpa-Text zu lesen ist, wollen sie in Köln nun eine Arbeitsgruppe einsetzen, die aufklären soll, was in der Silvesternacht vor dem Hauptbahnhof wirklich passiert ist. Immerhin eins kann man damit also mit ziemlicher Sicherheit ausschließen - dass in der Aufarbeitung irgendetwas überstürzt werden könnte. 

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Zwischendurch noch mal der vergewissernde Blick auf den Kalender. Ja, wir haben tatsächlich 2017 - das Jahr, in dem bald ein Mann als US-Präsident vereidigt wird, „der Frauen, die er nicht mag, ‚fette Schweine‘ nennt, ‚Hündinnen‘, ‚Schlampen‘ und ‚widerliche Tiere“. Das erwähnt Evelyn Roll auf der SZ-Medienseite in einem Text, in dem es vor allem um die Amazon-Serie „Good Girls Revolt“ geht,

„die gelungene Fiktionalisierung einer wahren Begebenheit aus dem Jahr 1970. Damals reichten 46 Frauen eine Sammelklage gegen ihren Arbeitgeber Newsweek ein wegen ‚systematischer Diskrimierung‘.“ 

Aber das war wie gesagt im Jahr 1970. 47 Jahre später gibt sich die Wirklichkeit mit derart schlichten Geschichten nicht mehr zufrieden. Damals gewannen die Frauen ihren Prozess nämlich. In der Serie kamen sie so weit nicht. Die wurde unter mysteriösen Umständen abgesetzt.

Evelyn Roll: 

„An der Entscheidung bei Amazon, das hat die Showrunnerin Dana Calvo veröffentlicht, war keine einzige Frau beteiligt. Weil keine Frau im Raum war. Weil es auf dieser Entscheidungsebene bei Amazon keine Frauen gibt. Roy Price, Chef der Amazon-Studios, mochte die Serie von Anfang an einfach nicht, heißt es“,

In Deutschland verlaufen die Dinge nicht weniger seltsam. Hier hat die ZDF-Journalistin Birte Meier ihren Arbeitgeber verklagt, weil sie einfach nur genauso viel Geld verdienen möchte wie ihre männlichen Kollegen (Altpapier vom 9. Dezember 2016). Evelyn Roll stellt den Fall dem der Serie gegenüber. Das überraschende Ende hier: Das ZDF habe Birte Meier offenbar einen Vergleich angeboten. Sie soll ihr Geld bekommen, „aber nur, wenn sie den Sender verlässt“

Ach, und ja, die Sache mit Donald Trump - heute auch Thema auf der FAZ-Medienseite - findet deshalb Erwähnung, weil die Fox-News-Star-Moderatorin Megyn Kelly sich die Ungeheuerlichkeit erlaubt hatte, dem damaligen Präsidentschaftskandidaten in Fernsehdebatten kritische Fragen zu stellen. Der Sender stärkte seiner Moderatorin den Rücken und zwang Donald Trump zu einer Entschuldigung. Kleiner Scherz. Natürlich nicht. Die kritischen Fragen brachten Megyn Kelly in große Schwierigkeiten. Sie und Trump versöhnten sich zwar, aber jetzt wechselte sie zum Konkurrenten NBC News, wie auch hier auf Spiegel Online zu lesen ist.  

Zum Schluss vielleicht noch ein weiterer Fall, der auch im Jahr 1970 spielen könnte. Der schwule türkische Modedesigner Barbaros Şansal - das allein schon eine ungeheure Provokation für die Anhänger Erdogans - hat aus seinem Ferienhotel in Nordzypern eine Videobotschaft nach Hause geschickt, in der er seinem Kummer über den Zustand der türkischen Gesellschaft in sehr drastischer Weise Ausdruck verleiht. „Er selbst werde, so Şansal in seiner Videobotschaft, nun alles Alkoholische austrinken, was die Hotelbar zu bieten habe - ‚die Türkei solle in ihrer eigenen Scheiße ersticken’“, zitiert Karen Krüge ihn in der FAZ. 

Die Behörden schafften Şansal gleich zum Flughafen. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete Flug und Ankunftszeit in Ankara, damit Şansal dort gleich vom zuständigen wütenden Mob in Empfang genommen und auf dem Rollfeld verprügelt werden konnte. Ankaras Bürgermeister sagte sinngemäß: „Selber schuld.“ Am Vorgehen der staatlichen Nachrichtenagentur gab es keinerlei Kritik. „Das bedeutet nichts anderes, als dass die türkische Regierung Gewalt für ein legitimes Mittel im Umgang mit ihren Kritikern hält“, schlussfolgert Karen Krüge. Nachzulesen ist der Fall auch im Standard.

Und damit nun zum...


Altpapierkorb

+++ Apple will die kritischen Inhalte der New York Times der chinesischen Regierung nicht länger zumuten und löscht die App der Zeitungnach Interventionen der chinesischen Behörden“ aus dem App Store, berichtet der Tagesspiegel. Die Frage ist nun, wie lange es dauert, bis @realdonaldtrump die Benachteiligung wittert (So unfair!) und Tim Cook per Tweet auffordert, die App aus Gründen der Gleichbehandlung auch in den USA aus dem Angebot zu nehmen, was der bis zum 20. Januar aber vermutlich erst mal ablehnen wird (So sad!). 

+++ Cornelius Pollmer schreibt in der SZ über Benjamin Schürers sehr lustigen Versuch, sich in seinem Blog re:marx gegen die verkorksten Überschriften der Sächsischen Morgenpost zur Wehr zu setzen. Im Blog erklärt Schürer das praktisch als Notwehr: „Denn die Mopo-Schlagzeilen sind nicht nur voller plumper Alliterationen, an denen wir uns aufgeilen wie die CSU an der Obergrenze für Flüchtlinge, nein, sie sind gleichermaßen so gefährlich wie eine billige Straßendroge, kurz Meth: Sie ruinieren Geist und Gesellschaft und machen schwer aggressiv, aber wir kommen einfach nicht davon los und brauchen täglich mehr. Deshalb haben wir uns unseren eigenen Schlagzeilen-Generator gebastelt, der aus einem von Stephen Hawking programmierten Algorithmus besteht und deshalb bessere Hauptsätze (Subjektiv – Prädikat Wertlos – ohne Objekt) bilden kann als mancher MoPo-Leser in der Kommentarspalte und am Frühstückstisch.“ Dabei kommt dann zum Beispiel heraus: „SKANDAL! Prügel-Polizist kracht gegen Schlagerstar“ Oder: „MYSTERIÖS: Angela Merkel begrapscht Einbrecher.“ Und wenn man das mal mit dem Original abgleicht, sieht man: So überzeichnet ist das gar nicht.

+++ Beim Presserat sind nach den Anschlägen von Berlin laut 25 Beschwerden eingegangen. „Die Beschwerden richten sich vor allem gegen ein Live-Video vom Tatort, die unverpixelte Darstellung des getöteten Lkw-Fahrers und Bilder der Leiche des mutmaßlichen Attentäters“, hat Presserats-Sprecherin Edda Eick dem Evangelischen Pressedienst (epd) gesagt, meldet die taz. Das seien deutlich weniger als nach den Anschlägen von Paris im November 2015. Damals hatte der Presserat 60 Beschwerden erhalten.  

+++ Der Medienrechts-Fachanwalt Dominik Höch erklärt in einem Interview mit Zeit Online, warum es gar nicht so leicht ist, Fake News komplett zu verbieten, denn: „Es ist nicht per se verboten, zu lügen. Um es zu ahnden, müssen die persönlichen Rechte von jemandem verletzt worden sein. Wenn es aber bei einer falschen Nachricht zum Beispiel allgemein um das Thema Flüchtlinge geht, ist im rechtlichen Sinn niemand persönlich betroffen. Wir müssen bei Fake-News und Hatespeech klar differenzieren, und wir müssen furchtbare Dinge aushalten. Wir können nicht alle uns nicht passenden Äußerungen wegregulieren, sonst verlieren wir unsere Freiheit“, sagt er. Nicht hinzunehmen sei allerdings, wenn Plattformbetreiber die Überprüfung von Inhalten mit der Begründung ablehnen, das könnten sie gar nicht leisten. „(…) wenn sie es nicht überprüfen können oder wollen, dann müssen sie es eben löschen. Sonst müsste ich meinen Mandanten künftig sagen: ‚Tut mir leid, dafür gibt es keinen Rechtsschutz. Die Verleumdung über Sie steht leider nicht in der Heilbronner Stimme, sondern bei Facebook.‘ Das darf nicht sein“, sagt Höch.

+++ Und der SPD-Politiker Christopher Lauer hat einem Sparkassen-Mitarbeiter paar freie Tage beschert, indem er dessen Namen, seine Sparkassen-E-Mail-Adresse und das in einer Wut-Mail geäußerte Bekenntnis zur AfD öffentlich machte. Erst hieß es, der Mann sei freigestellt worden. Dann teilte die Sparkasse mit, man habe ihm lediglich „ein paar Tage Urlaub gewährt“. Die freie Zeit will der Mann jedenfalls nutzen, um juristisch gegen Christopher Lauer vorzugehen. Lars Wienand hat sich ein paar Chips genommen, sich sich zurückgelehnt und die ganze Posse für die WAZ beobachtet und aufgeschrieben.

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