Fans machen keinen Journalismus

Fans machen keinen Journalismus
Sind Journalisten ein Teil des Getümmels oder berichten sie nur darüber? Darum geht es an diesem Montag. Anlässe für eine solche Debatte gab es an diesem Wochenende genug.

Szenarien helfen beim Denken. Ihr Sinn besteht darin, die Wirklichkeit besser zu verstehen. Sie machen deren Logik deutlich, gerade weil man sie sich mit anderen Voraussetzungen vorstellt. Wie wären etwa die Reaktionen gewesen, wenn in Orlando ein fundamentalistischer Protestant ein solches Gemetzel an Muslimen angerichtet hätten? Völlig ausgeschlossen ist das nicht: Fundamentalistische Interpretationen der Religion als gesellschaftspolitisches Modell gibt es schließlich in allen großen Weltreligionen, keineswegs nur im Islam. Das ist bisweilen mit einer entsprechenden Gewaltbereitschaft verbunden, wie die Morde in den USA an Ärzten dokumentieren, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen. In der Politik wäre die Reaktion eindeutig ausgefallen. Es hätte eine berechtigte Debatte über den Rassismus in den USA gegeben. Der designierte Präsidentschaftskandidat der Republikaner, Donald Trump, wäre wegen seiner radikalisierenden Anti-Islam Rhetorik unter heftigen politischen Druck geraten. Keineswegs wäre von den amerikanischen Liberalen vor einem Generalverdacht gegen fundamentalistische Protestanten oder gegen Waffenbesitzer gewarnt worden. Obwohl das durchaus berechtigt wäre: Nur die wenigsten fundamentalistischen Protestanten werden zu Terroristen, genauso die wenigsten Waffenbesitzer zu Massenmördern.

Eine solche Debatte ist in der Politik völlig in Ordnung. Sie funktionierte noch nie, wie das Ideal vom herrschaftsfreien Diskurs. Aber was passiert eigentlich, wenn die Berichterstattung in den Medien von Aktivisten bestimmt wird, die sich an dieser politischen Logik orientieren? Man kann heute einen guten Test über die Qualität der Berichterstattung zu Orlando machen. Hätten die diversen Nachrichtenportale in dem angenommenen Szenario genauso berichtet? Etwa den amerikanischen Liberalen die Instrumentalisierung eines Terroranschlages vorgeworfen, wie es jetzt bei Donald Trump passiert? Nur als Beispiel Roland Nelles auf Spiegel online.

„Typisch Trump: Die meisten Opfer sind noch nicht einmal identifiziert, etliche Fragen sind noch ungeklärt, da weidet er das Verbrechen bereits für seine politischen Zwecke aus. Während es nach Ereignissen dieser Art in den USA sonst üblich ist, das parteipolitische Gezänk aus Gründen der Pietät wenigstens für einige Zeit einzustellen, geht Trump kurzerhand in die Offensive. Mit Macht will er den Anschlag von Orlando zum neuen beherrschenden Thema des US-Wahlkampfs machen.“

Es ist natürlich eine lächerliche Vorstellung, dass im angenommenen Szenario das Lager der Demokraten mitten im Wahlkampf pietätvoll geschwiegen hätte. Es wäre auch für die politische Debatte kontraproduktiv gewesen, weil sich aus einem solchen Ereignis berechtigte politische Fragen ergeben. Die müssen diskutiert werden, gerade im Wahlkampf. Das schließt nicht die Kritik der Medien an der Instrumentalisierung von solchen Ereignissen aus. Sie bilden in dieser Beziehung ein Korrektiv zu einem politischen Diskurs, der sich in allen Lagern schon immer als Meinungskampf verstand. Dort geht es nicht um das bessere Argument, sondern um das Durchsetzungsvermögen unter konkurrierenden Interpretationen des gleichen Ereignisses.

Nur kann man als Journalist nicht nur dann die Instrumentalisierung kritisieren, wenn einem gerade einmal die Wirklichkeit nicht passt. Und das Szenario einigen Aktivisten sicherlich besser in die politische Agenda gepasst hätte. Sonst landet man dort, wo der Kollege Ralph Bauer schon angekommen ist. Im Wahlkampfgetümmel.

„Das ist die Ernte von dem, was der irre und menschenverachtende #Trump dauernd säht. Aufwachen, #USA!“

Wobei es selbstredend eine groteske Vorstellung ist, in den USA könnte jemand aufwachen, weil das jemand aus Würzburg (oder aus Berlin oder dem Sauerland) auf Twitter fordert, und das sogar mit Ausrufezeichen.

+++ Früher war zwar nicht alles besser, aber manches schon. Etwa wenn es um die Gatekeeper-Funktion des Journalismus geht. So hätte die Grüne Jugend aus Rheinland-Pfalz eine Pressemitteilung verschicken müssen, verbunden mit der Hoffnung, das Elaborat könnte jemand rezipieren. Die Bild hätte das bestimmt getan, wahrscheinlich mit der Schlagzeile: Die spinnen, die Grünen. Alle anderen Redaktionen hätten die Parteiführung der Grünen gefragt, was sie eigentlich von diesem Vorschlag hält.

"Patriotismus=Nationalismus. Fußballfans Fahnen runter!"

Natürlich wieder mit Ausrufezeichen. Nun gehört die Grüne Jugend Rheinland-Pfalz zum politischen Diskurs. Dort kann man fast alles sagen, sogar die Frage stellen, wen man zum Nachbarn haben möchte, oder ob Barack Obama wegen des Massakers von Orlando zurücktreten müsse. Das schließt daher den groben Unfug mit ein. Aber heute ist es eben viel leichter, die Aufmerksamkeitsökonomie zu bedienen, indem man Schlüsselreize auslöst. Es reicht eine Twittermeldung, um die gewünschte Debatte auszulösen. So gab es sogar Reaktionen auf die Grüne Jugend aus Rheinland-Pfalz vom Kanzleramtsminister und dem CSU-Generalsekretär. Der Parteiführung der Grünen ist das natürlich alles peinlich. Sie sind schließlich auch Fußballfans, und zumeist wohl nicht der wackeren Isländer.

Aber früher musste man halt als hoffnungsvoller Nachwuchspolitiker schon größere Geschütze auffahren, um ein vergleichbares Medienecho zu erzeugen, außer in der Bild von damals. So drohten die Jusos aus Südhessen in der Asyldebatte Anfang der 1990er Jahre, einen Hund zu vergiften. Ansonsten wäre nicht jeder Unfug von Journalisten als relevante Nachricht weitergegeben worden. Das hat sich geändert. Jetzt gilt nämlich die Reaktion auf den Unfug schon als die interessante Nachricht. Daher ein Tipp für den politischen Nachwuchs aller Parteien: Versucht es mit einer Nachricht über das Vergiften einer Katze. Bestimmt wird sich dann sogar die Bundeskanzlerin dazu äußern.

+++ Fußballfans dürfen bekanntlich parteiisch sein. Welchem Fan machte das Spiel schon Spaß, wenn er mit objektivierender Distanz beim Spiel der eigenen Mannschaft mitfiebert? Gestern Abend spielte erstmals die deutsche Nationalmannschaft bei der EM in Frankreich. In der Berichterstattung der ARD hatte man den Eindruck, dort berichten stundenlang Fans über dieses Spiel, die es zufällig in die Sportredaktion der ARD geschafft haben. Die einzigen kritischen Töne zum Spiel der Weltmeister, unserer Helden aus Rio, kamen nach dem Spiel ausgerechnet von diesen Helden selbst. Etwa vom Bundestrainer oder von Jerome Boateng. Ansonsten waren dort Fans der „Mannschaft“ im Einsatz, denen die Differenz zwischen Identifitzierung und journalistischer Distanz offensichtlich ein Rätsel ist. Vor allem bei Gerd Gottlob kommt der Fan auf seine Kosten, der offensichtlich auch bei der Rheinischen Post zu finden ist.

„Nach dem gewohnt konfusen Béla Réthy beim Eröffnungsspiel ist Gottlob besonders eine Wohltat. Vielleicht ist er manchmal etwas zu verliebt in "Die Mannschaft". Er duzt, aber er wirkt nicht anbiedernd. Er spricht über das, was er sieht. Das ist so ungewöhnlich geworden, dass man sich erst einmal wieder daran gewöhnen muss. Wenn man bei Réthy und Co. schon das dritte Blatt voll gekritzelt hat, konnte man bei Gottlob noch keine einzige Floskel notieren.“

Manchmal etwas zu verliebt? Er spricht über das, was er sieht? In der ersten Halbzeit muss er ein anderes Spiel gesehen haben, etwa als der Bundestrainer in seiner späteren Nachbetrachtung. Leider gibt es beim Fußball keine Blindverkostung. Gottlob hätte die Qualität des deutschen Spiels sicherlich anders kommentiert, falls es sich um Nordiren oder Russen gehandelt hätte. Aber solche Verirrungen passieren halt, wenn sich Journalisten an der Perspektive der Fans orientieren. Und eines muss man den Sportkommentatoren mittlerweile zugutehalten. Der Druck auf sie über die sozialen Netzwerke ist gewaltig. Pöbeleien und unqualifizierte Angriffe gehören dort zum schlechten Ton. Insofern ist die Verunsicherung nachvollziehbar, die das auslösen kann. Da wirkt Gottlobs Fanperspektive als Identifizierung mit der „Mannschaft“ ohne objektivierende Distanz wie ein Schutzschild.

+++ Ohne diese objektivierende Distanz wird Journalismus aber zum modernen Aktivismus, den man früher allerdings als Propaganda bezeichnet hätte. Ein Marktführer ist in dieser Beziehung das russische Staatsfernsehen, das alles nur noch aus der Perspektive ihrer Regierung betrachtet. Diese Erfahrung musste jetzt der WDR-Journalist Hajo Seppelt machen. Über diesen Vorfall berichtet etwa Markt und Medien im DLF.

„Nach etwa 20 Minuten aber habe das Gespräch merkwürdige Züge angenommen. Plötzlich sei er gefragt worden, ob er das russische Volk beleidigen wolle und vom Geheimdienst bezahlt werde. Für ihn sei klar gewesen: Nun hat es keinen Sinn mehr, das Interview weiterzuführen. Seppelt räumt auch ein, dass er zu spät realisiert habe - und das sagte er etwa auch der FAZ -, dass das Gespräch als Provokation gedacht war.“

Fans machen eben keinen Journalismus, gleichgültig welchem Lager sie sich zuordnen. Das gilt nicht nur für die von Wladimir Putin in Russland.


Altpapierkorb

+++ Eine interessante Debatte ist auch der Umgang mit jenen Randalierern, die sich Hooligans nennen, und die die EM in Frankreich als Kontaktbörse nutzen, um auf die gewohnte Art zu kommunizieren. Wobei die persönliche Kommunikation dieser Internationale der Vollpfosten nicht auf das Wort angewiesen ist, während die Medien darüber selbstredend berichten müssen. Dabei ist jedem Beobachter der Vollpfosten aus dem eigenen Land nachvollziehbarerweise besonders peinlich. Keineswegs käme aber jemand auf die Idee, die eigenen Fans umstandslos alle diesem Vollpfosten-Lager zuzuordnen. So ist es bestimmt einfacher, die Vollpfosten anderer Nationen zum Thema zu machen als die eigenen. Deshalb hat sich wahrscheinlich die Tagesschau gestern Abend darum bemüht, die deutschen Vollpfosten vor dem Spiel gegen die Ukraine als die kleine Minderheit zu beschreiben, die sie tatsächlich sind. Diese Differenziertheit könnte auch den Fans aus England und Russland gelten, die sicherlich ebenfalls nicht in ihrer Mehrheit in Marseille randalierten. Eine positives Beispiel für eine gute Berichterstattung findet man aber etwa bei Spiegel online.

+++ Als russische Fans im Stadion in Marseille den Fanblock der Engländer stürmten, waren die Fernsehzuschauer auf die Hörfunkberichterstattung des Fernsehkommentators angewiesen. Bilder waren nicht zu sehen. Der Hintergrund wird etwa in der SZ und der FAZ geschildert. In der SZ heißt es: „Es gibt klare Regeln der Uefa für das Weltbild: Keine Flitzer, keine bengalischen Feuer, keine politischen Plakate, keine Schlägereien. Auch leere Ränge passen nicht in das gewünschte, saubere Bild, das Veranstalter und Sponsoren sehen wollen. "Ich weiß definitiv, dass es für das Weltbild eine klare Ansage der Uefa gibt, was gezeigt werden darf und was nicht", sagte der preisgekrönten Live-Regisseur Volker Weicker in einem Interview mit der FAZ.Die UEFA will halt nicht ihr Geschäftsmodell verderben, daher die Aktion Sauberer Bildschirm. Hier ist zugleich der Grund zu finden, warum drastische Sanktionen gegen die Nationen ausbleiben werden, deren Hooligans in Frankreich ihr Betätigungsfeld gefunden haben. Will man wirklich eine EM ohne England, Russland, Deutschland und Frankreich? Dafür mit wackeren Isländern und Iren, wo sich wohl nur wenige Vollpfosten finden? Das kann man jenen Medienpartnern aus diesen Nationen nicht antun, die von der UEFA die Übertragungsrechte teuer erworben haben. Und von 300.000 Isländern kann die UEFA nun einmal nicht leben.

+++ In der FAS wird dieser Fall aufgeklärt, der in den vergangenen Tagen so manchen Zeitgenossen bewegte.“Also gab sie die Fotos an die AHK weiter. Dort aber gingen in der Hektik der Reisevorbereitungen die Bilder einiger Teilnehmerinnen verloren. Einen Tag vor der Abreise baten Mitarbeiter der AHK daher die betroffenen Frauen, die benötigten Bilder in einer Mail nachzureichen. Das taten sie auch, allerdings besaßen sie nicht die zuvor gemachten Fotos mit Kopftuch. Es war Nachmittag, die Fotostudios hatten geschlossen. Die Frauen schickten, was sie gerade zur Hand hatten: alte Passfotos, aus den Tiefen des Computers hervorgekramt. Einige mögen dabei erleichtert gewesen sein, auf diese Weise in der Broschüre nicht mit Kopftuch aufzutauchen – Protest gegen die Entscheidung des Dienstherren stand aber nicht als Motiv dahinter.“

+++ Wie sich Politik der Medien bedient, wird auch am Fall von Gina-Lisa Lohfink deutlich. Ihr Prozeß wegen des Verdachts der Falschbeschuldigung war zu Beginn nur ein Thema des Boulevard. Mittlerweile hat es die Politik erreicht, wie jetzt auch die Regenbogenpresse berichtet. Der Fall gilt als Argument für die geplante Verschärfung des Sexualstrafrechts. Deswegen äußert sich der Bundesjustizminister zum laufenden Verfahren. Jenseits dessen, wie man die rechtliche Bedeutung dieses Falles beurteilt. Es zeigt die Funktionsweise im Zusammenspiel von Medien und Politik. Einen wichtigen Schub bekam diese Debatte nach den Silvesterereignissen in Köln. Es diente unter anderem dem politischen Ziel, sie von einer Islamdebatte zu einer über den sexuellen Mißbrauch umzudeuten. Dabei war in Köln der eigentliche Skandal der Kontrollverlust der Polizei. Sie konnte den Rechtsstaat nicht mehr im öffentlichen Raum garantieren. Es ging daher weder in erster Linie um die Identität der Täter, noch um scheinbare Gesetzeslücken. Der Kontrollverlust durch deutsche Hooligans wäre in gleicher Weise ein Skandal gewesen. In diesem Kontext wird der Lohfink-Prozeß politisch instrumentalisiert. Ansonsten müsste man nämlich zugleich den Fall von Jacob Appelbaum oder des Geigers David Garrett thematisieren. Sie wehren sich gegen vergleichbare Anschuldigungen. Nur geschieht das nicht. Obwohl erst dann diese rechtspolitische Debatte jene Ernsthaftigkeit bekäme, die sie verdient. Sie könnte ein Problem lösen, aber dafür Neue schaffen. Um Lohfink freizusprechen, brauchte es übrigens noch nicht einmal die Gesetzesänderung. Es reichte wahrscheinlich die Beweisaufnahme.

+++ Ob der Tagesspiegel von Harald Martenstein übernommen worden ist? Das fragt heute Franz Sommerfeld auf Carta. Eher nicht, so die Vermutung.

+++ In Töne, Texte, Bilder auf WDR 5 fragt man sich dafür, wie Sportjournalisten an ihre Informationen kommen. Außerdem geht es dort noch um die Glaubwürdigkeit von Journalisten.

+++ Was jetzt auch nicht mehr fehlt? Content Marketing. Hier die Besprechung von Petra Sorge einer Studie der Otto-Brenner-Stiftung zum Thema. Außerdem scheinen sich alle auf die nächste Folge von Beckmann in Malente zu freuen.

Das Altpapier gibt es wieder am Dienstag.

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