Die perfekte Parallelrealität

Die perfekte Parallelrealität
Ist die Razzia bei Google in Paris vorbildlich oder eine Inszenierung? Ist der Spiegel auf einen Gewährsmann hereingefallen, den das Magazin einen „Historiker“ nennt, obwohl er keiner ist? Ist es „den öffentlich-rechtlichen Sendern zu verdanken, dass Olympia in Deutschland so erfolgreich ist“? Außerdem: die Online-Inszenierung der FPÖ; eine regional-bipolare Boulevardzeitung; eine Vox-Doku gegen die „Lügenpresse“.

Der FC Bayern München kam bereits am Montag und am Dienstag prominent an dieser Stelle vor, und Positives gab es über den Verein dort nicht zu sagen, weil er nämlich kurzerhand einen öffentlichen Platz zu einem Raum erklärt hat, über den er zu bestimmen können glaubt. Man kann aber auch der Auffassung sein, dass es derzeit - aus ganz anderen Gründen - auch Anlass gibt, den Verein in Schutz zu nehmen, und zwar gegen einen Artikel, der im aktuellen Spiegel erschienen ist.

Es geht um den Umgang des FCB mit dem „Arierparagraphen“ und um ihren einstigen jüdischen Präsidenten Kurt Landauer. Das mag für nicht fußballhistorisch Interessierte erst einmal etwas abseitig klingen, andererseits hat die ARD 2014 Landauers Leben verfilmen lassen, mit Josef Bierbichler in der Rolle des Protagonisten (siehe hier und hier).

Bislang galt der FC Bayern als Verein, der während der NS-Zeit auf Distanz zu den Nazis geblieben war“, aber „dieses Bild“ lasse sich nun nicht mehr aufrechterhalten, heißt es in dem Online-Anreißer für den Spiegel-Artikel. Dietrich Schulze-Marmeling, Verfasser des Buchs „Der FC Bayern und seine Juden“, spricht dagegen in einer Stellungnahme, die das Zeitspiel-Magazin veröffentlicht hat, von einer

„Mischung aus längst bekannten und veröffentlichten Dingen und einer guten Portion Hochstapelei  (…) Der Berg hat also gekreißt und – noch nicht einmal – eine Maus geboren. Der Berg ist der ‚Historiker‘ Markwart Herzog. So stellt jedenfalls der Spiegel seinen Kronzeugen vor. Herzog ist allerdings kein „Historiker“ (ich bin es auch nicht), sondern Religionsphilosoph und sitzt im Kloster Irsee, von wo aus er bereits seit Jahren eine als Wissenschaft verbrämten Rachefeldzug gegen missliebige Wissenschaftler und Autoren führt und sich dabei immer wieder falscher Behauptungen bedient“.

In einem großen SZ-Interview für den heutigen München/Bayern-Teil (das derzeit nicht frei online steht) ergänzt Schulze-Marmeling diesbezüglich:

„Es geht nicht um wissenschaftliche oder politische Kontroversen. Die Quellen sind Neid und verletzte Eitelkeit. Das ist nicht mein Spielfeld.“

Man muss an dieser Stelle vielleicht anmerken, dass Herzog einmal Autor im Werkstatt-Verlag war, in dem wiederum Schulze-Marmeling als Lektor tätig ist (und in dem ich Bücher veröffentlicht habe). 2008 hat Herzog noch einen Beitrag für ein von Schulze-Marmeling mitherausgegebenes Buch verfasst (in dem auch ich mit einem Text vertreten bin). Die folgenden acht Jahre hat Schulze-Marmeling Herzog „ignoriert“ (siehe diese Facebook-Diskussion).

Nun aber zurück zum Inhaltlichen:

„Was Herzog bewusst unterschlägt (und die Spiegel-Redakteure offenbar nicht wissen): Im Vergleich zum DFB und vielen anderen Vereinen war der FC Bayern mit dem Ausschluss seiner Juden ziemlich spät dran (…) Die Nazifizierung des FC Bayern und der Ausschluss seiner jüdischen Bürger verlief (…) nicht so schnell und reibungslos, wie der Spiegel und sein Herzog suggerieren. Die Spiegel-Schreiber haben Herzogs Einschätzung blind vertraut, anstatt diese einem ausgewiesenen Experten zur Prüfung vorzulegen“,

kritisiert Schulze-Marmeling. SZ.de schreibt:

„Es ist ein kleiner Historikerstreit um den FC Bayern entbrannt, wobei Historiker schon mal das falsche Wort ist. Es streiten sich: ein Religionsphilosoph und zwei Autoren, die sich ausgiebig mit der Geschichte des Fußballs in Deutschland und im Speziellen mit der des Münchner Vereins auseinandergesetzt haben.“

Der zweite Autor, der neben Schulze-Marmeling gemeint ist, ist Dirk Kämper, der eine Biographie über Kurt Landauer verfasst hat. Er schreibt im Blog des Werkstatt-Verlages:

„Was bleibt (…) von Herrn Herzogs Geschichte? Vor allem die Frage, warum sich große deutsche Meinungsmedien ausgerechnet am Tag des DFB-Pokalfinales mit Beteiligung des FC Bayern auf eine im Kern mehr als fragwürdige Story stürzen. Die sie offensichtlich weder überprüft noch ausreichend hinterfragt haben. Es geht gegen die Bayern? Das scheint als inhaltliches Kriterium in mancher Redaktion völlig ausreichend zu sein.“

Die angegriffenen Nachrichtenmagazin-Redakteure melden sich auch zu Wort, und zwar im Spiegelblog:

„Tatsächlich hat Herzog das geleistet, wofür wissenschaftliches Arbeiten steht. Er hat sich nicht nur darauf beschränkt, bekanntes Wissen auszuwerten, sondern nach neuen Fakten gesucht. Herzog wurde im Archiv des Registergerichts im Münchner Amtsgericht fündig. Die Protokolle, die er dort gefunden hat, kann jedermann einsehen. Der Spiegel hat das getan. Sie liefern neue Erkenntnisse zum Beispiel über die ‚Arierparagrafen’ in der Satzung des FC Bayern.“

Außerdem liefern Andreas Meyhoff und Gerhard Pfeil dann noch „einige Beispiele für die neuen Details“, die Herzog herausgefunden hat.

[+++] Wir bleiben beim Sport, wechseln aber das Spielfeld. ARD und ZDF haben am Dienstag in Hamburg ihr Programm für die Olympischen Sommerspiele und die Paralympics vorgestellt, die im August und September in Rio de Janeiro stattfinden. Um technische Neuerungen ging’s bei der Pressekonferenz („Neben der Eröffnungs- und Schlussfeier gibt es jeden Tag ausgewählte Wettkämpfe live in 360 Grad und im VR-Format“, dwdl.de), vor allem aber spürte man eine Mischung aus Melancholie und Verbitterung, die daher rührt, dass die Spiele in Rio vorerst die letzten sind, die ARD und ZDF in der gewohnten Form übertragen dürfen. dwdl.de hat genau zugehört:

„Wer genau zuhörte, konnte in Hamburg so manche Breitseite gegen die Kollegen von Discovery vernehmen, die vor einem Jahr mit dem Erwerb der begehrten Olympia-Rechte nicht zuletzt die Vertreter von ARD und ZDF überraschten.“

Das Hamburger Abendblatt schreibt:

„Den Frust kann ZDF-Sportchef Dieter Gruschwitz auch fast elf Monate später nicht verbergen: ‚Es ist doch den öffentlich-rechtlichen Sendern zu verdanken, dass Olympia in Deutschland so erfolgreich ist.‘ Vor vier Jahren etwa fand ein Taekwondo-Finale der Frauen, obschon ohne deutsche Beteiligung, mehr als acht Millionen TV-Zuschauer. ‚Solche Zahlen wird es nicht mehr geben, wenn Olympia nicht mehr bei uns läuft‘, mahnte (ARD-Programmdirektor Volker) Herres. Dass sein Sender seither kein Taekwondo mehr gezeigt hat, stattdessen aber am Sonnabend erstmals in einer Livekonferenz über die Landespokalendspiele im Amateurfußball berichtet, gehört allerdings auch zur Wahrheit.“

Der Tagesspiegel hat einen dpa-Bericht parat:

„Die seit Monaten laufenden Verhandlungen mit dem US-Unternehmen Discovery haben bisher zu keiner Lösung geführt. ‚Im Augenblick sind wir noch sehr weit voneinander entfernt' sagte ARD-Sportkoordinator Axel Balkausky am Dienstag in Hamburg.“

Ich wiederum erwähne in meinem Bericht für die Sutttgarter Zeitung, dass Volker Herres die Pressekonferenz dafür nutzte, mal wieder seinen Hang zum Pathos auszuleben.

[+++] Der Begriff „Steuerschlupflöcher“ mutet für mich ja leicht floskelwolkig an, aber dass „Google und andere US-Tech-Riesen wie Apple und Amazon schon lange in der Kritik stehen, Steuerschlupflöcher auszunutzen“, wie Die Welt berichtet, lässt sich wohl kaum bestreiten. Aktueller Anlass der Bemerkung zu diesen legalen Schurkereien ist eine Razzia in den französischen Büros von Google am Dienstag. Was passierte konkret?

More than 100 tax officials with the French internal revenue service known as the Direction Générale des Finances stormed Google’s Paris office under police guard to find out just how much Google makes in France. They were so concerned that Google execs would hide their accountancy that they even used clandestine communication means to make the plans, fearful that someone might tip the search engine giant“,

berichtet The Daily Beast. Über die Hintergründe informiert uns Bastian Brinkmann auf Seite 1 der SZ:

„Google hat in Frankreich wie in Deutschland eine Niederlassung. Diese Gesellschaften sind allerdings laut Geschäftszweck nur dafür da, Verträge an die Europazentrale des Konzerns zu vermitteln, die in Irland sitzt (…) In Irland ist der Steuersatz für Unternehmen nicht einmal halb so hoch wie in Deutschland. Google verschiebt außerdem Gewinne von Irland über eine Firmen-Konstruktion in den Niederlanden in die Karibik. Dort müssen Konzerne teilweise gar keine Steuern zahlen. Finanzleute nennen dieses Modell ‚Double Irish Dutch Sandwich‘. Google gilt als bekanntester Nutzer dieses legalen Steuertricks.“

Auf der Meinungsseite kommentiert Brinkmann:

„Bei Google sollten auch deutsche Fahnder einrücken.“

Der Kommentar Andreas Geldners für die Stuttgarter Zeitung hat einen anderen Tenor:

„Ist es nicht gut, wenn ein Land den arroganten Amerikanern, wie es jenseits des Rheins ja Tradition hat, die Stirn bietet? Doch bei genauerem Hinsehen sind solche Aktionen kein Zeichen der Stärke. Die eigentlich relevante Instanz bleibt die EU, die ja Google in Wettbewerbsfragen durchaus an die Kandare zu nehmen versucht. Frankreich wird hier im Alleingang kaum sehr weit kommen. Und so bleibt bei einigen Aktionen der jüngsten Zeit der Verdacht, dass mancher Jurist und Politiker bei solchen Inszenierungen auch ein ganz klein wenig an die eigene Karriere denkt.“

So gesehen könnte die Frage, ob deutsche Fahnder bald bei Google in Hamburg „einrücken“ (SZ), auch davon abhängen, ob es hier Juristen und Politiker gibt, die solche „Inszenierungen“ (StZ) für karriereförderlich halten.

[+++] Inszenierungen vielerlei Art beherrscht bekanntlich die FPÖ. Wie sie für ihre Jünger eine „perfekte digitale Parallelrealität“ geschaffen hat, vor allem mit ihrer Website unzensuriert.at - das beschreiben Ingrid Brodnig und Jakob Winter für Profil.

„Die Online-Inszenierung erklärt einen Teil des Erfolgs der Freiheitlichen. Weitgehend unbemerkt von den traditionellen Medien und klassischen Parteien entsteht im Netz ein neuer Machtfaktor in der Meinungsbildung“,

schreiben sie. unzensuriert.at könne

„längst nicht mehr als unbedeutendes Blog abgetan werden. Laut (…) 1000flies.de zählte eine Meldung des Portals im Jahr 2015 zu den drei Artikeln mit den meisten Interaktionen auf Facebook (Likes, Shares und Kommentare zusammengerechnet) im deutschsprachigen Raum.“

Der Klagenfurter Blogger Bernhard Torsch (Der Lindwurm) bemerkt in seiner Analyse der österreichischen Bundespräsidentenwahl, dass sich „die Zivilgesellschaft“ nicht nur „gegen die gut geölte Kampagnenmaschine der FPÖ“ sondern auch gegen die „hetzerische“ Boulevardzeitung Krone durchgesetzt habe.

Die Krone wiederum hat am Tag nach der Wahl „ihre regional-bipolare Seite“ offenbart, wie Der Standard feststellt. Das Krawallblatt hatte den eher unorthodoxen Einfall: In Regionen, in denen der neue Bundespräsident gut abgeschnitten hatte, widmete man ihm auf Seite 1 ein Aufmacherfoto mit positiver Anmutung, anderswo dagegen eines mit negativer.


Altpapierkorb

+++ Neue Stellvertreterin des Regierungssprechers Steffen Seibert wird, siehe u.a. Spiegel Online, ab Juni Ulrike Demmer, die derzeit - und noch gar nicht sooo lange, nämlich erst seit Herbst 2015 - das Hauptstadtbüro des Redaktionsnetzwerks Deutschland leitet. „Ich finde: Wenn man jahrelang über Politik geschrieben hat, kann es nicht schaden, auch mal dabei zu sein, wenn Politik gemacht wird“, schreibt René Pfister, der früher beim Spiegel mit Demmer zusammengearbeitet hat. Ich finde das nicht.

+++ Als Sender mit einer Tendenz zur Gemeingefährlichkeit muss man wohl künftig Vox einstufen, jedenfalls, wenn man ein Filmchen als Maßstab nimmt, das die RTL-Tochter gestern über Xavier Naidoo ausstrahlte. „Wissen Sie, warum Xavier Naidoo Deutschland nicht beim Eurovision Song Contest vertreten durfte? Weil er sich für den Frieden und gegen die Spaltung der Gesellschaft eingesetzt hat. Und ein Lied gegen Kinderschänder gemacht hat. Das fanden ahnungslose, böse Journalisten rechtspopulistisch und homophob, und deshalb haben sie eine unfassbare Hetzkampagne gegen diesen Sänger losgetreten, obwohl er der allerbeste Sänger ist, den Deutschland hat, und überhaupt der allerallerbeste Sänger, der Deutschland beim Eurovision Song Contest vertreten könnte. So war das im vergangenen Jahr. Wenn man der „Xavier-Naidoo-Story“ glaubt, die gestern Abend auf Vox lief“ - so fasst Stefan Niggemeier (Übermedien) die Message des Werks zusammen. „Die Vox-Doku benutzt nicht das Wort ‚Lügenpresse‘, aber es steht im Raum“, schreibt Niggemeier des weiteren, und der Begriff „Schmieren-Dokumentation“ fällt auch noch.

+++ Die Publizistin und Bloggerin Anke Domscheit-Berg möchte für die Linke in den Bundestag einziehen, und zwar als Kandidatin im Brandenburger Wahlkreis 60. Das steht in einem Artikel in der taz. „Haben die GenossInnen mittlerweile eingesehen, dass es ohne Strahlkraft in Sachen Internet und Digitalisierung nicht mehr geht? Vielleicht braucht die Partei aber einfach auch nur eine Kandidatur mit einer Profilkombination, die nicht gerade üblich ist bei der Linkspartei: weiblich, jung, medienaffin?“ schreibt Simone Schmollack. Die „über Brandenburg hinaus bekannte Persönlichkeit“ (der Linke-Landesvorsitzende Christian Görke in diesem Video) war früher auch schon bei den Grünen und den Piraten aktiv und fungiert bei der taz als „Ersatzaufsichtsrätin“.

+++ „Das französische Fernsehmagazin ‚Le Petit Journal‘ hat eine Paris-Reportage, mit welcher der russische Kremlpropagandist Dmitri Kiseljow seinem Publikum die Europaskepsis und Ressentiments gegen Migranten vor Augen führen wollte, als gigantische Fälschung entlarvt“ - das berichtet Kerstin Holm auf der FAZ-Medienseite.

+++ Ebd. geht Michael Hanfeld auf eine neuartige Quotendebatte ein: Die EU-Kommission will heute den Vorschlag vorstellen, dass 20 Prozent des Angebots, das „Netflix und andere Streaminganbieter vorhalten, künftig aus europäischen Produktionen bestehen (soll)“.

+++ Darauf, dass Tamedia, Ringier oder Axel Springer inzwischen Abteilungen unterhalten, die Native Advertising produzieren, also Anzeigen, die wie redaktionelle Texte aufgemacht sind, weist Rainer Stadler in der NZZ hin. Diese Werbeform biete „den Vorteil, dass sie auch Personen erreicht, welche auf ihren Geräten Ad-Blocker installierten (…) Diese Werbefilter können Native Advertising nicht erfassen, da entsprechende Beiträge auch technisch im redaktionellen Umfeld angesiedelt sind“, bemerkt Stadler des weiteren.

+++ Dass der WDR nach fünf Staffeln „Die Wiwaldi-Show“ einstellt - für Nichtkenner: eine Late-Night-Show mit einem Hund als Gastgeber, um es vereinfacht zu sagen -, berichtet dwdl.de. Als gemäßigter Fan der Sendung, als der ich mich hiermit oute, muss ich das dem WDR natürlich übel nehmen.

+++ Den Intendanten des Nie-Wieder-Wiwaldi-Senders hat medienpolitik.net interviewt. Es geht dabei aber nicht um die abgesetzte Show.

+++ Zum Schluss was Unterhaltsames aus dem Columbia Journalism Review: „In my 44 years at the Times, I discovered a host of newsroom myths, virtually all of them riffing off the paper’s perceived pomposity“, schreibt Gerald Eskenazi. Gemeint ist die New York Times, und unter anderem geht es um wild ausgeschmückte Geschichtchen über die Gründe für die Degradierungen von Redakteuren.

Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.

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