Geordnete Verhältnisse und klare Fronten

Geordnete Verhältnisse und klare Fronten
Was für eine Woche: David Bowie ✝, #ausnahmslos, Istanbul, ‚Gutmensch‘, Übermedien, Alan Rickman ✝. Heute hat Wikipedia Geburtstag, es gibt stapelweise Post aus Polen, lösungsorientierten Journalismus, eine sinnvolle App für Flüchtlinge und etwas über Amazon, Time Warner und Al Jazeera.

Seit zwei Jahren lebe ich in einer gepflegten Gartensiedlung aus den fünfziger Jahren. In den schmucken Häuschen mit den adretten Vorgärten wohnen vorwiegend noch ihre Erbauer, oftmals nach dem zweiten Weltkrieg aus ihrer früheren Heimat Geflüchtete – gebildete, freundliche Menschen, die Haushaltshilfen haben, sich zu mehreren Familien einen Gärtner teilen und jedes Jahr mindestens eine Kreuzfahrt machen. Es gibt nur eine junge Familie mit Kindern, deren Großeltern einst aus Pakistan nach Deutschland kamen. Leider machen fünf- und 11-jährige pakistanisch-stämmige Kinder mehr Krach als deutsche Kinder. Wie man ja auch sofort hört, wo Türken feiern, die sind eben lauter und auch immer gleich 20, 30 Mann hoch, das ist bei denen so.

Autor:in
Vera Bunse

Die freie Journalistin Vera Bunse schlägt sich mit anderer Leute Texten, Politik, Netz- und Medienpolitik und sozialem Gedöns herum und durch.

Dass Kinderlärm besonders auffällt, wenn es im Kilometerumkreis nur zwei Kinder gibt, findet keine Beachtung. Dass das deutsche Akademikerpaar gegenüber an vielen Wochenenden ab Freitagnachmittag die gesamte Umgebung beschallt und seine vier, fünf Gäste bei der Abfahrt am sehr frühen Morgen auch Anwohner mit gutem Schlaf aufwecken – Himmel ja, die feiern halt gern. Aber sehr ordentliche Leute.

Und so schreibt Stefan Niggemeier auf seiner Neugründung Uebermedien (gestern im Altpapier) über die mediale Verarbeitung der Silvesternacht in Köln:

„Der Furor, mit dem die Medien in den ersten Tagen bestürmt worden [sind], gefälligst die Herkunft der Verdächtigen zu benennen, obwohl darüber noch so wenig bekannt war, deutet darauf hin, dass es hier gar nicht ums Verstehen und Erklären ging, ums Hinsehen, um ‚die Wahrheit‘, sondern um eine schlichte Feststellung, ähnlich der des ‚Sun‘-Kolumnisten: Ausländer. Es waren Ausländer. Mehr muss man nicht wissen.“

Die Nachbarschaft wird überwiegend AfD wählen. Man will doch seine Ordnung haben. Niemand ist hier fremdenfeindlich, aber die Menschen haben Angst vor möglichen Unruhen, die viele Politiker medial dauerverstärkt menetekeln („Stellen Sie sich bloß vor – wenn die Regierung deshalb schon Gesetze verschärfen muss!“). Sie haben Angst, dass jemand ihnen etwas wegnimmt, denn Merkel kann sie anscheinend nicht mehr beschützen (#merkelmussweg). Sogenannte Berichte über das xenophobe Geschehen und angeblich konsequente Forderungen daraus werden unterdessen im Diskant wiederholt; in der Zeitung, in den Nachrichten hört man kaum noch anderes. Und wenn es alle sagen

(Folgen Sie ruhig dem Hashtag, aber erschrecken Sie nicht. Man kann die Hetze ausblenden, aber sie hört deshalb nicht auf.)

Anne Will bemerkt zu der Art, wie die Debatte zur Zeit geführt wird, in einem angenehm offenen Interview von Stefan Niggemeier und Boris Rosenkranz:

Der Jazz wird ja derart laut gespielt im Moment, dass man Sorge haben muss, dass uns da jetzt etwas total verrutscht. Wenn wir nicht sehr aufpassen, geht auf allen Seiten die Kommunikationsfähigkeit verloren.

[+++] Bundesrichter Thomas Fischer beleuchtet in seiner ZEIT-Kolumne „Fischer im Recht“ die neuesten Rufe nach Gesetzesverschärfungen und fordert ein-, aus- und nachdrücklich:

Schluss mit der politisch motivierten Schonung von Ausländern! Knallharte Verfolgung nordamerikanischer Verbrecher, die das Gastrecht in Ramstein missbrauchen! Konsequente Ermittlung gegen ausländische Täter, die gegen Recht und Gesetz die Telekommunikation deutscher Frauen abhören! Sofortige Entlassung der Innen- und Justizminister, die es aus politischer Opportunität unterlassen haben, mit der ganzen Härte des Rechtsstaats gegen die Taten von Ausländern einzuschreiten, die von deutschem Boden aus menschenrechtswidrige Entführungen oder Folterungen organisierten, anordneten oder durchführten!“

Er möge weithin gehört und beachtet werden.

[+++] Der Bundesgerichtshof wiederum hat gestern entschieden, dass Facebook gegen das Wettbewerbsrecht verstößt:

„Zum einen habe Facebook ‚wettbewerbsrechtlich unzulässige belästigende Werbung‘ verschickt, indem es Nichtmitglieder per E-Mail zum Beitritt einlud, ohne dass die Adressaten dem Empfang solcher Mails vorher zugestimmt hatten. Zum anderen habe das Unternehmen seine Mitglieder ‚über Art und Umfang der Nutzung von ihnen importierter Kontaktdaten irregeführt‘ [...]“ (Az. I ZR 65/14, liegt noch nicht im Wortlaut vor.)

Vielleicht ist das ja auch gar nicht mehr wichtig: Eine Studie der Agentur Faktenkontor sieht bereits die Facebookdämmerung heraufziehen. Denjenigen, deren Daten auf diese Weise an den interessantesten Orten gelandet sind, würde das allerdings nicht mehr helfen.


Altpapierkorb

+++ Wikipedia wird 15, und Deutschlandradio Kultur fragt den Organisationstheoretiker Prof. Dr. Leonhard Dobusch, ob wirklich jede/r dort mitmachen kann. Spoiler: Es ist schwierig. +++

+++ Hitzig wird auf Twitter über die drastische Charlie-Hebdo-Karikatur zu den Vorfällen in Köln gestritten (#koelnhbf). Die Beurteilung soll und muss jedoch jedem Einzelnen überlassen bleiben. Jedenfalls sollten wir Karikaturen nicht nur ablehnen, weil wir selbst ihr Sujet sind. +++

+++ Der Brief lebt: Nicht nur deutsche Redaktionen bekommen stapelweise Post aus Polen, in der die neuen Mediengesetze und die Beschränkung des Verfassungsgerichts verteidigt werden. „Auf der [nationalkonservativen] Webseite [von Niezależna] steht wortwörtlich der Text, der nun in Briefform die Redaktionen erreicht – auf Polnisch, Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch.“ +++

+++ Lösungsorientierten Journalismus wollen drei junge Wissenschaftler mit ihrem noch crowdzufinanzierenden Vorhaben Perspective Daily machen. Auch hier ist, wie schon bei den Krautreportern, De Correspondent Vorbild. Wie die Krautreporter wollen sich auch die Perspective-Gründer zunächst auf einen Vertrauensvorschuss verlassen, sie hätten aus dem Beispiel jedoch „wichtige Lehren“ gezogen. +++

+++ Gemeinsam haben Bayerischer Rundfunk, die Bundesagentur für Arbeit, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und das Goethe-Institut ankommenapp.de umgesetzt. @TanteJay, die täglich mit Flüchtlingen zu tun hat, findet: „Alles in allem eine gute erste Orientierungshilfe für Flüchtlinge, inklusive rudimentärem Deutschkurs.“ Auf sueddeutsche.de betont @SimonHurtz, dass die App nach dem Download keine Internetverbindung mehr benötigt. Da haben die Macher doch mal mitgedacht. +++

+++ Amazons Original-Serie Mozart in the Jungle hat zwei Golden Globes eingeheimst: für die beste Serie/Comedy und für den besten Hauptdarsteller in einer Serie/Comedy. Üben, Öffentlich-Rechtliche, auch wenn die Medienkorrespondenz so ihre wohlbegründeten Zweifel an der Kompetenz der die Globes ausrichtenden Vereinigung hat: „Definiert wird die aktive Mitgliedschaft in der Hollywood Foreign Press Organization nach dem Wohnsitz der rund 40 Journalisten in Los Angeles und mindestens vier jährlichen Publizierungen in ausländischen Medien – eine Qualifikation, deren Absurdität in den USA schon oft Gegenstand der Kritik gewesen ist.“ +++

+++ Wechselwirkung: Die DLD, von Burda veranstaltete Digital-Life-Design-Media-Konferenzreihe, arbeitet künftig mit der FAZ zusammen, berichtet turi2: „Eingefädelt hat die Zusammenarbeit Dominik Wichmann, Ex-Chefredakteur von ‚SZ-Magazin‘ und ‚stern‘, der seit September als DLD-Chefredakteur und Co-Geschäftsführer agiert.“ +++

+++ Die Trommeln verkünden, Time Warner stehe auf der Kippe; als mögliche Käufer seien angeblich Murdochs 21st Century Fox, Amazon und Apple am Start. Letztere wollen ins Fernsehgeschäft, was angesichts des vorhandenen Spielgeldes voraussichtlich auch den internationalen Fernsehmarkt verändern würde. +++

+++ Al Jazeera America gibt auf, nachdem nur noch 30.000 Zuschauer das Programm sehen wollten. Glenn Greenwald sieht einen Grund für das Scheitern im übervorsichtigen Agieren des Senders, das guten Journalismus verhindert habe („a diluted, extra-fearful version of CNN“). +++

+++ Twitter geht es nicht gut. Dabei haben sich doch deutsche Journalisten gerade ein bisschen daran gewöhnt. +++

+++ Immer noch tagt der NSA-Untersuchungsausschuss (#NSAUA), und immer noch livebloggt dankenswerterweise unverdrossen netzpolitik.org aus jeder der Anhörungen. +++

Neues Altpapier gibt es am Montag.

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