Manche machen auch Seepferdchen

Manche machen auch Seepferdchen
Die Nazis sind zurück und es stellt sich die Frage, wie neutral Journalisten angesichts dessen zu sein haben. "Hart aber fair" versucht sich an einer Ausgabe zum Thema Gendermainstreaming, die nicht wieder aus der Mediathek gelöscht werden muss. Vincent Vega wünscht Petra Pau den Tod. Vice-Mitarbeiter ohne Street Credibility gesucht. Der Raabschied beginnt und muss sich gleich einen neuen Namen suchen.

Im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg, in dem ich wohne und über den ich seit ein paar Jahren schreibe, gibt es ein Flüchtlingsheim in einer alten Schule (was nur so lange besser klingt als Baumarkt, bis man die schäbige Platte mal gesehen hat). Vor gut einem Jahr haben sich ein paar Nachbarn zusammengetan, um den Menschen, die dort unterkommen, zu helfen. Fast 200 sind es mittlerweile, die eine Kleiderkammer und Hausaufgabenhilfe managen und die Menschen aufs Amt begleiten, wenn diese sich dem nicht gewachsen fühlen.

Im Moment sind in Berlin Sommerferien. Damit die Flüchtlingskinder diese nicht komplett im Heim verbringen müssen, wurde ein Schwimmkurs organisiert. Jeden Mittag holen Freiwillige die Kinder ab, bringen sie zur Schwimmhalle und nach dem Kurs wieder zurück. Zweimal in der Woche wird auf dem Rückweg Station in einer Eisdiele gemacht, die das in Neapel erdachte System des Caffè sospeso – man bezahlt zwei Kaffee, trinkt aber nur einen, den zweiten kann dann jemand mit weniger Geld ordern – auf Eis umgemünzt hat.

Der Kurs läuft noch bis zum Ende der Woche. Schon jetzt haben sieben Kinder das Seepferdchen gemacht.

Was das mit Medienjournalismus zu tun hat?

Gestern war an dieser Stelle, nicht zum ersten Mal, vom Wunsch nach Constructive News die Rede, von denen der Chef des dänischen Rundfunks sich mehr wünscht. Das klingt ein wenig albern und nach Verklärung, wird aber im Laufe dieses Textes noch viel Sinn machen. Schließlich beginnt auch dieser Morgen mit der Meldung, dass eine noch unbewohnte Flüchtlingsunterkunft in Brandenburg gebrannt hat. Wer es nicht mit Franz Josef Wagner hält, der tagtäglich Wörter nach einer ausgewürfelten Rangfolge aneinanderreiht, das Kolumne in der Bild-Zeitung nennt und heute behauptet, über Heidenau seien die Nazis wie biblische Heuschrecken hergefallen (abgesetzt vermutlich von Ufos), dem wird langsam unbehaglich in diesem Land. Damit die Nazis nicht denken, sie und ihr Verhalten seien in der Mehrheit, muss man einfach von Seepferdchen erzählen, nur zum Beispiel. Viele andere derartige Geschichten finden sich unter dem Hashtag #bloggerfuerfluechtlinge.

"Es ist unsere Aufgabe zu berichten, unvoreingenommen und unparteiisch. Unsere Reporter sollen nicht skandalisieren oder dramatisieren, nicht schönreden oder gar ausblenden. Wir möchten unseren Nutzern zeigen, was gerade passiert. Und doch legen wir in unseren Sendungen und Angeboten ein besonderes Augenmerk auf Menschen, Initiativen und Organisationen, die sich konstruktiv mit den Fragen auseinandersetzen: Was sind die passenden Konzepte für die stark gestiegene Zahl der Flüchtlinge? Was können die Bürger tun? Ein Beispiel dafür ist die Deutschland-Karte auf tagesschau.de, bei der wir Projekte vorstellen, die die Integration von Flüchtlingen zum Ziel haben."

Das schreibt ARD-aktuell-Chefredakteur Kai Gniffke im "Tagesschau"-Blog und gehörte damit ebenfalls zu den guten Nachrichten des Tages, wenn diesem Absatz nicht Rechtfertigungen für dieses Handeln folgten sowie die Versicherung, dass man auch Abschiebungen völlig wertfrei zeige.

Es klingt, als wolle Gniffke im vorauseilenden Gehorsam schon einmal dem braunen Mob erklären, dass die "Tagesschau" auch dessen Gebührengelder wert sei – nicht, dass er hinterher wieder behauptet, das sei nur Fernsehen für Gutmenschen.

"Hier sind Journalisten in der Versuchung, für diese unglücklichen Menschen Partei zu ergreifen. Deshalb sollten wir in unserer Berichterstattung die Welt nicht in gut und böse einteilen – unsere Meinung darf keine Rolle spielen. Auf der Basis unseres Auftrags und unserer Haltung ist es aber legitim, dass wir ein besonderes Augenmerk auf all die Menschen und Institutionen legen, die sich um Lösungen für das Flüchtlingsthema bemühen. Das Thema wird uns noch lange begleiten."

Da ist sie wieder, die Hanns-Joachim-Friedrichs-Gedächtnisdebatte, die sich mit keiner Sache gemein machen, und ihre jüngere Schwester, die Journalismus nicht als Aktivismus verstanden wissen will. Und natürlich hat Gniffke recht, wenn es darum geht, dass Abschiebungen in unserem Rechtssystem genauso vorgesehen sind wie das Recht auf Asyl und damit wertfrei zu präsentieren sind. Dennoch halte ich es nicht für die beste Idee, diese Rechtfertigung zu veröffentlichen, nachdem tagelang Nazis in einer sächsischen Kleinstadt ihr dunkles Gedankengut auslebten.

Wenn gewaltbereite Rechte auf Flüchtlinge treffen, dann ist die Welt in gut und böse eingeteilt und die Berichterstattung sollte das berücksichtigen. Wie es läuft, wenn man stattdessen relativiert und beschwichtigt, haben wir schließlich schon ausprobiert.

Allerdings ist man bei der "Tagesschau" nicht alleine in dem Bemühen, bloß niemanden zu verprellen: Gestern Abend noch musste die SZ rasch Überschrift und Teaser dieses Artikels anpassen, nachdem eine Kollegin sie darauf hingewiesen hatte, dass jetzt vielleicht nicht der beste Zeitpunkt sei, um zu fordern, das nach dem Urteil zum Betreuungsgeld freiwerdende "Geld für Kinder statt Flüchtlinge" auszugeben (beide Versionen hat Dorin Popa bei Twitter archiviert).

Im Tagesspiegel schreibt heute der einstige FR-Chef Wolfgang Storz als Fazit eines Debattenbeitrags im Nachgang zu diesem Artikel, der sich der Gegenöffentlichkeit widmet, die die Ken Jebsens und Kopp-Verlage dieser Welt bilden:

"Ich denke, die klassischen Medien müssen dringend helfen, den von ihnen mitgeprägten Mainstream zu erweitern. Es muss selbstverständlich werden, dass ein strikter Gegner der Euro-Währung, der Politik des Staates Israel, der offiziellen Version von 9/11 mit seinen Argumenten Teil der Berichterstattung und der Debatte ist. Außenminister Frank-Walter Steinmeier mahnte jüngst: ,Das Meinungsspektrum draußen im Lande ist oft erheblich breiter’ als in den Medien. Und genauso entschieden muss politisch die Debatte gegen die Position geführt werden, diese Demokratie sei nichts anderes als das Regime eines kleinen Geldadels im Bündnis mit den Medien gegen das Volk."

Gut. Der Zusammenhang ist ein leicht anderer, da Storz fordert, Anhänger von Verschwörungstheorien häufiger zu Wort kommen zu lassen und keine Nazis. Aber im Kern bleibt ja die gleiche Aussage, nämlich Meinungen von den Rändern in der Mitte zu platzieren.

Vor ein paar Tagen sprach ich mit einem älteren Herrn, dem ich im Laufe des Gesprächs leider mitteilen musste, dass es sich bei seinen Aussagen um Rassismus handelte. Sie waren nicht so platt wie diejenigen, die aktuell gerne aus Facebookstreams herauskopiert werden, sondern mit Fakten unterlegt und versehen mit einer Quellenangabe: "Das habe ich in der FAZ gelesen".

Mein Bedarf, den Mainstream zu erweitern – ein wohl auch von Storz abwertend gemeinter Begriff, der jedoch auch definiert, was gesellschaftlich akzeptiert wird – wäre damit gedeckt.

Nazis sind Nazis sind Nazis und müssen als solche auch benannt werden. Was nicht heißt, dass die Welt damit einfacher geworden wäre.

Ebenfalls gestern holte sich die dpa nach der Überschrift "Randale zwischen Linken und vermutlich Rechten in Heidenau" eine kleine (bei Meedia dokumentierte) Debatte ab, die Nachrichtenchef Froben Homburger zunächst bei Twitter einzufangen versuchte. Heute darf er bei kress.de etwas ausführlicher erläutern, dass die herausgegriffene Meldung nur eine von vielen zum Thema Heidenau gewesen sei, und in diesem speziellen Fall eben nicht eindeutig war, welche politische Gesinnung die zweite Randalepartei mit sich herumtrug.

"Ein wesentliches Kriterium journalistischer Sorgfalt ist es, nur das als Fakt darzustellen, was auch wirklich sicher verifiziert werden kann. Wenn Menschen in Heidenau an der Straße stehen, werden sie nicht automatisch dadurch zu Rechtsextremisten, dass sie von der Antifa angegriffen werden. Möglicherweise waren es Schaulustige. Und auch wenn Schaulust in Zeiten rassistischer Krawalle moralisch höchst fragwürdig ist, ist auch sie noch nicht automatisch rechtsextremistisch. (...)

Hätten wir auf diese Einschränkung verzichtet, hätte vermutlich (!) niemand protestiert. Aber eine Berichterstattung, die Mutmaßungen zu Fakten erklärt, ist nicht mehr objektiv - und verliert langfristig ihre Glaubwürdigkeit."

Wenn das Bemühen, es allen recht zu machen, jedoch dazu führt, dass man deutschen Medien zutraut, rechte Gewalt zu verharmlosen, ist auch niemandem geholfen.


Altpapierkorb

+++ Was macht man, wenn man bei "Hart aber fair" eine Diskussion abgeliefert hat, die so flach war, dass man das Ergebnis lieber nicht auf Dauer in der Mediathek erhalten will (siehe Altpapier gestern)? Genau: Noch ne Sendung zum Thema drehen. "Bei uns ist Thema, was die Menschen bewegt oder aufregt. Das gilt natürlich auch, wenn wir es selber sind, die die Gemüter erhitzen. Das haben wir mit unserer Gender-Sendung definitiv getan, ein guter Grund also, das Thema und die Reaktionen auf unsere Sendung Anfang September noch einmal bei ,Hart aber fair’ zu debattieren", zitieren sowohl DWDL als auch Meedia Frank Plasberg. Michael Hanfeld erinnert derweil auf der FAZ-Medienseite daran, wie seltsam es sei, Inhalte aus dem Netz zu löschen, "wenn man allein bedenkt, dass die öffentlich-rechtlichen Sender die Medienpolitik mit zunehmendem Erfolg mit der Forderung bedrängen, ihre Inhalte online ohne jede zeitliche Beschränkung zeigen zu können." +++

+++ Petra Pau bei Facebook mit dem Tod zu drohen war nicht genug, um den Nutzer namens "Vincent Vega" zu belangen. Denn der Mann hinter dem Profil erklärte, dessen Zugangsdaten seien öffentlich gewesen und er an nichts schuld. Alice Hasters und Matthias Meisner erklären im Tagesspiegel, warum sie glauben, dass man diese Aussage durchaus noch einmal hätte überprüfen können. +++

+++ Für die SZ hat Karoline Meta Beisel einen Blick in die gerade gestartete Beta-Version des Online-Kiosks Blendle geworfen und eine Sonderfunktion mit Nostalgiefaktor entdeckt: ",Du kannst Dein Geld zurückbekommen, falls ein Artikel Deinen Erwartungen nicht entspricht.’ In den Niederlanden habe man damit nur gute Erfahrungen gemacht, und Missbrauch würde schnell auffallen, heißt es bei Blendle. Im Prinzip ist es also doch genau wie im echten Kiosk: Einen Artikel kann man vor Ort überfliegen. Ärger gibt es erst, wenn man zwischen Lollis und Paninibildchen versucht, das ganze Heft zu lesen." +++ Zudem erläutert Cathrin Kahlweit auf der Seite, welchen Streit zwei österreichische Journalisten von Falter und Krone ausfechten, und was die FPÖ damit zu tun hat. +++

+++ Der Skandal um die gehackte Dating-Website Ashley Madison hat die FAZ erreicht. "Doch für die tausend Geouteten von ,Ashley Madison’, die in Saudi-Arabien leben, steht ganz anderes auf dem Spiel als schiere Bloßstellung. In der absoluten Monarchie droht bei Ehebruch die Todesstrafe, mit ihr kann auch Homosexualität bestraft werden. Die Hacker agieren derweil im Schutz der Anonymität. Ihre eigenen Namen, ihre Gesichter bleiben verborgen, ihre Geheimnisse gewahrt. Darauf gründet sich ihre Macht über die Leben anderer. Und darin liegt die eigentliche Unmoral dieses Skandals", schreibt dort Ursula Scheer. +++

+++ Dass Hardy Prothmann kein riesiger Fan des Mannheimer Morgens ist, ist bekannt. Andernfalls hätte er niemals sein Heddesheimblog – und im Anschluss ein ganzes Regionalblogimperium – aufbauen müssen. Nun treffen sich die beiden Kontrahenten vor Gericht: Bereits im Dezember hatte Prothmann mit diversen Helfern in seinem Rheinneckarblog behauptet, dass die Zeitung in ihrer Leserbriefspalte eine Kampagne gegen die 2023 geplante Bundesgartenschau führe. Überschrift: "Der gesteuerte Betrug am Leser". Dagegen geht diese nun vor, steht bei kress.de. +++

+++ Philipp Lengsfeld scheint das mit der Pressefreiheit noch nicht richtig verstanden zu haben. "Mit welchem Mandat stellen sich deutsche Medien eigentlich so massiv gegen den Innenminister?", twitterte er. Die Antworten, die er darauf erhielt, hat ebenfalls kress.de dokumentiert. +++

+++ Bei Vice sind ein paar Jobs frei und nicht jeder schätzt die formulierten Anforderungen, wie @TorstenBeeck festhält. +++

+++ Immer, wenn es um Paul-Josef Raue geht, muss ich offenlegen, dass ich einst mein Volontariat bei einer von ihm geleiteten Zeitung absolvierte und das so toll fand, dass ich die Ausbildung auf den geringst möglichen Zeitraum verkürzte. Gestern nun vermeldete auch die Funke-Gruppe per Pressemitteilung, was vor zehn Tagen schon einmal die Runde machte: Raue verlässt die Thüringer Allgemeine. ",Dennoch sind wir auch etwas glücklich. Denn er geht nicht ganz’, sagt Michael Wüller, Geschäftsführer der Funke Mediengruppe. Der 65-Jährige soll zukünftig bei der Weiterentwicklung der Journalistenausbildung innerhalb des Medienhauses eine prägende Rolle übernehmen." Wenn ich als einst Betroffene zwei Vorschläge machen dürfte: Ein Gehalt, das diesen Namen verdient, und eine Reduzierung der täglich zu schreibenden Artikel auf unter sechs wären zwei super Weiterentwicklungen. +++

+++ "Der lange Raabschied beginnt auf ProSieben. Zum letzten Mal meldet sich Stefan Raab aus einer Sommerpause zurück", das hatte Meedia gestern Abend exklusiv zu vermelden, ergänzt um ein Spekulationen, wie der Sender die 25.900 Programmplätze bespielen will, die alle frei werden, wenn der Raabschied (Seriously, Meedia?!) wirklich durch ist. +++

Neues Altpapier gibt es morgen wieder. 

weitere Blogs

Ein mysteriöser Todesfall, das Mauern der Einheimischen und eine latente Homophobie begegnen einer lesbischen Pastorin bei ihrer Ankunft in einer ostdeutschen Kleinstadt. Aus der Großstadt bringt sie zudem ihre persönlichen Konflikte mit. Beste Zutaten für den Debütroman „In Hinterräumen“ von Katharina Scholz.
Nach 15.000 Kilometern und fünf Monaten ist Leonies Reise vorbei. Was bleibt? In ihrem letzten Blogbeitrag schaut sie auf ihre Erfahrungen zurück.

Vom Versuch nicht zu hassen. Biografische Streiflichter von gestern, das irgendwie auch heute ist.