Am Papier nagt derweil die Digitalisierung

Am Papier nagt derweil die Digitalisierung
Erregungsmanagement und Inszenierung in Politmagazinen des Fernsehens. Verlieren die immer weniger werdenden, aber immer mehr zahlenden Zeitungs-Abonnenten irgendwann mal die Geduld? Hat Google versehentlich Daten veröffentlicht, die sich gegen Google auslesen lassen? Außerdem: der deutsche Chefredakteur, der Verleger nicht fürchtet, sondern ihnen Angst einjagt; die symbolische Bedeutung der Eichhörnchen; der Umsatz des Bundeskanzlerin-Interviewers.

Sinead O’Connor soll Kim Kardashian beleidigt haben. Wer diese Sache mit einem journalistischen Feigenblatt, nicht aber ohne die Titelseite des US-amerikanischen Rolling Stone serviert bekommen möchte, klickt am besten zum Tagesspiegel. Der hat bei Axel Springer (zu dessen letzten Zeitschriften die aktuell übrigens mit dem Vollblut-Rock'n'Roller Conchita Wurst aufmachende deutsche Ausgabe gehört) nach künftigen Titelseiten-Plänen gefragt.

Forsa-Chef Güllner beleidigt außerdem per Stern-Interview Stefan Niggemeier (der sich natürlich zu wehren weiß). Und dann wühlt auch noch diese unglaubliche Eichhörnchen-Geschichte auf. Falls nicht, weisen wir als Gedächnis des deutschen Medienjournalismus rasch auf die unglaubliche symbolische Bedeutung hin, die Eichhörnchen dank Mark Zuckerberg genießen (brainyquote.com).

Mit anderen Worten: Bisschen Sommerloch ist doch. Grund genug, hier erst mal auf einen nicht tagesaktuellen, aber lesenswerten Diskurs-Beitrag einzugehen. Er beschäftigt sich mit dem Fernsehen. Dass auch dieses suggestivkräftigen Medium bzw. seine Macher-Communities offenbar längst in Parallelgesellschaften zerfallen, in denen etwa Jörg Kachelmann noch mit Zusammenhängen assoziiert wird, in denen er 2010 als Bildmaterial herumgereicht wurde, aber nicht mehr mit dem Freispruch von 2011, zeigt der jüngste Niggemeier-Blogeintrag.

[+++] Also, Bernd Gäblers Brenner-Stiftungs-Studie "Anspruch und Wirklichkeit der TV-Politikmagazine", die sowohl digital als auch gedruckt gratis! zu haben ist, beschäftigt sich ausführlich mit Sendungen wie "Frontal 21", "Monitor", "Panorama", "Fakt" undsoweiter. Mit detailliert beschriebenen Beispielen analysiert Gäbler zum Beispiel die "Betroffenen-Opfer-Inszenierung", die "Selbstinszenierung eines unerschrockenen Journalismus" und die "Inszenierung des anonymen Zeugen" (der manchmal nur der anonyme Darsteller eines noch anonymisierteren Zeugen ist) in diesen Magazinen. Facetten der Inszenierung spielen also eine große Rolle. Und gerade diese phänomenologische Herangehensweise beeindruckt, weil sie weit über das oberflächliche Durch-Zappen hinausgeht, das meistens das Bild vom Fernsehen speist.

Zu welchen Ergebnissen gelangt Gäbler so?

"Diese zugleich appellierende und bevormundende Haltung ist verführerisch, weil sich damit permanent Erregung erzeugen lässt, ohne die Gesamtstatik der gesellschaftlichen Konflikte auch nur anzutasten. Einfach machen es sich die politischen Magazine beim Erregungsmanagement besonders dann, wenn die Recherche hauptsächlich simuliert wird. Die Reporter von 'Fakt' verfolgen den Geschäftsführer diverser Reiseportale durch Leipzig, rufen ihm Fragen zu und müssen dabei auch noch dessen Gesicht verpixeln. Irgendeinen Ertrag bringt das nicht. ... "

und

"Mit besonders 'krassen Fälle' lassen sich Redaktionen gerne von den jeweiligen Organisationen der Interessenvertretung - von Patientenschützern bis Hausbesitzern - versorgen. Zum 'Fall' plus entsprechend anrührendem O-Ton wird dann gerne noch der Anwalt der Organisation als 'Experte' hinzugenommen. Auch das ist ein Fall von Recherchesimulation. Eine auf Partizipation und die Erörterung politischer Alternativen setzende journalistische Aufbereitung von Interessenkonflikten würde anders aussehen",

heißt es auf S. 95.

Klar, dass die in diesem Fall Betroffenen nicht begeistert sind. Eine entsprechende EPD-Meldung stellt die Brenner-Stiftung in ihrem umfangreichen Bonusmaterial in Retro-Fax-Optik (PDF) bereit. Wie der ältere Hase Gäbler zu packen ist, weiß am besten die NDR-"Panorama"-Redaktion:

"Aus der Zeit gefallen erscheint uns daher auch mancher Maßstab zur Messung von Relevanz. Auf Nachfrage, wie er die Bedeutung der politischen Magazine messe, antwortete Bernd Gäbler: anhand des 'Abdrucks in Zeitungsartikeln'. Er gibt zu, dass die digitalen Verbreitungswege nicht näher berücksichtigt wurden. Dabei ist das  im Jahr 2015 ein durchaus bemerkenswertes Relevanzkriterium."

Ein Experte im eigenen Sinne (S. 57: "Die Spezialität des Experten liegt darin, Meinungen als Tatsachen auszugeben") ist Gäbler selbst natürlich auch.

[+++] Damit ins "journalistische Abendland, das seinem Untergang etwas hilflos gegenübersteht" (aktuelle TAZ-Kriegsreporterin-Kolumne). Oder, wie der Mode-, aber auch Gourmet- ... hieße es "-Papst"? ... wie jedenfalls Alfons Kaiser in seinem Porträt der neuen deutschen Harper's Bazaar-Chefin auf der FAZ-Medienseite die aktuelle Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen auf den Punkt bringt:

"Es passt ins Bild, dass hier im Café de Flore am Nebentisch Leila Easum sitzt, die arabische Couture-Kundinnen bei der Kleiderwahl berät, und am anderen Nebentisch die französische Stilikone Inès de la Fressange. Modemädchen würden ausflippen, Kerstin Schneider isst ungerührt ihren Bohnensalat. Am Papier nagt derweil die Digitalisierung."

Der wichtigste tagesaktuelle Beitrag zur Zeitungs- oder doch Journalismuskrise kommt aus dem Schwäbischen im engeren Sinne. Es geht um die Stuttgarter Zeitungsfusion (siehe v.a. dieses Altpapier). Vor allem werde sie aber, legt Josef-Otto Freudenreich in der ebenfalls Stuttgarter Wochenzeitung Kontext noch einmal nach, aus überregionalen bzw. münchnerischen Gründen forciert: Hätten die Verleger von der Südwestdeutschen Medienholding

"damals, anno 2008, nicht 60 Prozent der SZ-Anteile für sage und schreibe 720 Millionen Euro gekauft, wären sie heute liquide wie eh und je, und müssten ihren Gesellschaftern von Ulm über Pforzheim bis Heilbronn seitdem nicht vorenthalten, was die über Jahrzehnte gewohnt waren: die Millionen-Dividende. Stattdessen mussten die Teilhaber mehr als 100 Millionen Euro nachschießen. 'Die SWMH steht mit dem Arsch an der Wand', sagt ein Insider, und das ist der eigentliche Grund für das ganze Gedöns um die 'flexible Gemeinschaftsredaktion', die Geschäftsführer Rebmann als neuen Weg ohne Vorbild preist. Es ist nichts anderes als Sparen auf Kosten der Stuttgarter Blätter ..."

Freudenreich greift zu einem Fußball-Vergleich. Das wäre wie "wenn der VfB und die Kickers in Stuttgart fusionieren würden, um mit dem gesparten Geld Bayern München zu finanzieren". Für Nicht-Fußballfreunde: Da handelt es sich um zwei Mannschaften, die aus unterschiedlichen Richtungen knapp die Zweite Liga verpasst haben.

Während dieser Aspekt und seine Brisanz natürlich streng durch die lokale Brille gesehen sind, ist überregional brisanter ein anderer:

"Nun könnten 'wirtschaftliche Erwägungen' auch bedeuten, das zu sichern, was man hat. Die gedruckten Zeitungen etwa, die immer noch das Geld bringen. Sprich die LeserInnen, die treu und brav ihre Abos bezahlen, Jahr für Jahr fast zehn Prozent mehr. 275 Euro kostete die StZ im Jahr 2008, heute sind es bereits 435 Euro. Immerhin: Die verkaufte Auflage von StZ und StN liegt noch knapp über 180.000 im ersten Quartal 2015, vor sieben Jahren waren es fast 220.000. Ein dramatischer Rückgang gewiss, aber immer noch das Rückgrat der Bilanz. Doch irgendwie scheint diese Kundschaft eine Restgröße, eine aussterbende Spezies, zu sein, der so ziemlich alles zuzumuten ist ..."

Die insgesamt immer weniger werdenden, aber immer noch mehr zahlenden Zeitungs-Abonnenten als "Restgröße", die die jeweils auch nicht billigen Umstrukturierungs-Maßnahmen im laufenden Betrieb bezahlen sollen - das ist ein Punkt, der Beachtung verdient. Es könnte ja durchaus sein, dass ihnen vieles egal ist, was genau im Zeitungsherstellungsbetrieb abläuft, weil die Zeitung ein gewohntes Frühstückstischdetail ist (wie der erwähnte Richard Rebmann gerne durch die Blume sagt). Es wäre schön, wenn nicht.

[+++] Indes hat die ebenfalls erwähnte SZ aus München, deren Kurt Kister Freudenreich zufolge der einzige deutsche Chefredakteur sein soll, der nicht etwa Angst vor seinen Verlegern haben muss, sondern diesen selbst Angst einzujagen versteht, einen bimedialen Schwerpunkt gestaltet, der sich mit hoffnungsvollen jornalistischen Online-Initiativen befasst.

Für die Medienseite der Print-SZ schaut David Denk sehr freundlich auf krautreporter.de, lässt noch mal die bekannteste Kritik am anfangs über-, später eher unterambitionierten Projekt Revue passieren und Geschäftsführer Esser ("... ist kein Schönredner - aus Prinzip. 'Unsere Mitglieder honorieren Offenheit', ist er überzeugt") geduldig darauf antworten. Denks Fazit:

"Vielleicht ist - unerhörter Gedanke - Krautreporter ja als Symbol wichtiger denn als publizistische Stimme."

Fast noch freundlicher ist Hannah Beitzer, die für sueddeutsche.de die, was Crowdfunding betrifft, Krautreporter-Rivalen von correctiv.org besucht hat:

"'Diese Geschichte hat Menschenleben gerettet', ist er sich sicher. Es sind wohl Sätze wie diese, wegen derer [Correctiv-Chef David] Schraven hin und wieder 'Größenwahn' unterstellt wird - durchaus respektvoll gemeint. Wenn er von einem Projekt überzeugt ist, tritt er nicht bescheiden auf."

Was diesen Bericht unterstreicht ist die jüngste Correctiv-Recherche, die das Redaktionsbüro gemeinsam mit dem Guardian unternahm (und von der auch wiederum die SZ-Medienseite berichtet). Es geht um Googles Löschpraktiken infolge des vom Europäischen Gerichtshof verfügten Rechts auf Vergessenwerden. Offenbar hat der kalifornische Konzern in seinem eigenen Transparenzbericht (" Ersuchen zur Löschung von Suchergebnissen gemäß europäischem Datenschutzrecht") Datensätze  sozusagen vergessen (correctiv.org: "die detaillierten Daten dort versteckt im Quellcode veröffentlicht. Vermutlich geschah dies aus Versehen")

Und diese Daten sagten etwas anderes aus als das, was Google (das bekanntlich das EuGH-Urteil nicht gut fand und gerne Kritik daran "befeuert") öffentlich macht.

Womit sich Correctiv tatsächlich verdient macht. Fundierte, nicht mit Eigeninteressen verknüpfte Kritik am Datenkraken ist bekanntlich selten.
 


Altpapierkorb

+++ Gestern in der gedruckten FAZ und hier erwähnt, nun frei online: Jörg Seewalds Artikel über den Markt der deutschen Fernsehstudios und -produzenten und den hohen Anteil, den öffentlich-rechtliche Tochterfirmen daran haben. "Ins Gerede gekommen ist die vom Kartellamt durchsuchte Bavaria zuletzt auch durch die Art und Weise, in der sie an die Produktion der ARD-Shows 'Verstehen Sie Spaß?' und 'Show der Naturwunder' kam. Die Bavaria, so der Verdacht, müsse erfahren haben, dass Konkurrenten bessere Angebote eingereicht hätten. Plötzlich sei die Offerte der Bavaria um zehn Prozent günstiger gewesen ...", heißt es darin u.a.. +++

+++ Alles, was ungefähr jeder über das Interview des Youtubers Le Floid mit der Bundeskanzlerin (Altpapier vom Dienstag) denkt, am schönsten in eine Form gegossen hat Thomas Lückerath für dwdl.de: "Das Ungewohnte hat diesem Interview seine Aufmerksamkeit gegeben. Hätte Merkel zur besten Sendezeit um 20.15 Uhr bei ProSieben mit Stefan Raab gesprochen, es wäre genauso groß behandelt worden." +++ Was der Fragesteller und seine Partner geschätzt verdient haben dürften, beziffert meedia.de. +++

+++ Meinungsfreudige Nachrufe sind selten. Hans Barlach aber, der mit 59 Jahren starb, bekommt sie. Er "agierte oft im Zwielicht. Die geschäftliche Liaison mit dem rätselhaften, 2010 von eigener Hand gestorbenen Hamburger Philanthropen Claus Grossner, mit dem er 2006 zunächst 29 Prozent der Suhrkamp-Anteile übernahm, bevor drei Jahre später durch Joachim Unselds Ausstieg weitere zehn Prozent dazukamen, war dabei nur eine von vielen undurchsichtigen Partnerschaften" (Gregor Dotzauer im Tagesspiegel). +++ "Und es mag sein, dass es gerade das Zwielicht war, in das er immer wieder geriet, das ihn zu einem solchen Kämpfer der verlorenen Sache werden ließ" (Thomas Steinfeld, Süddeutsche). +++ Zum Medien-Zusammenhang noch mal Dotzauer: "Nicht minder kurios ist der Deal, in dem er 2004 die Programmzeitschrift 'TV Today' für 15 Millionen Euro von Gruner + Jahr kaufte. Ein Jahr später landete sie bei Burda in München, seinem Kreditgeber. Barlachs Geschäfte mögen ein gewisses ökonomisches Geschick erkennen lassen - von inhaltlichen Interessen zeugen sie nicht und schon gar nicht von langem Atem."
+++ Steinfeld: "Ob das aus finanziellem Kalkül geschah, wie Hans Barlach oft vorgeworfen wurde, oder ob sich dieser Einstieg auch einem Interesse an der Kultur verdankte, wie symbolisch es auch immer ausgefallen wäre - das ließ sich in all diesen Jahren nie auseinanderhalten. Und es wird sich jetzt auch nicht mehr auseinanderhalten lassen." +++ Über Barlach und Josef Depenbrock liest man auch nur im Tsp., nicht in Harald Jähners BLZ-Nachruf.. +++

+++ Wahrscheinlich wird das liebe Netz höchstens mit etwas Aufregung darauf reagieren, aber als Muster für eine Menge weiterer onlinejournalistischer Artikel könnte "Liebes Netz, reg dich nicht so über 'Bravo' auf!" (Hannah Lühmann, welt.de) sich durchaus eignen. +++ "In Zeiten, in denen Deutschland eine Bundeskanzlerin hat und in Amerika mit Hillary Clinton eine Frau US-Präsidentin werden will, dürfte die 'Bravo' mit einer solchen Hitliste an den Interessen junger Frauen deutlich vorbeischreiben" (Sonja Alvarez, Tagesspiegel). +++ "Im Gegensatz zu Frauenmagazinen, in denen nicht selten Tipps ähnlichen Kalibers zu lesen sind, spricht Bravo unter 18-Jährige an, die noch Orientierung im Leben suchen. Eine Liste wie diese kann da besonders fatal wirken" (Kathrin Hollmer dazu auf der SZ-Medienseite). +++

+++ Erregung ist natürlich auch das Ziel der ARD-"Brennpunkte" rund um Griechenland. Dazu phänomenologisch Rupert Neudeck bei medienkorrespondenz.de. +++

+++ Neuer medialer Aspekt des bereits langjährigen Prozesses gegen Beate Zschäpe: US-amerikanische Stellen, seien es staatliche, sei es Youtube selbst, haben offenbar auf ein älteres Rechtshilfeersuchen reagiert und den Youtube-Konsum der Angeklagten über ihren Account "Liese1111" an die deutsche Justiz (oder zumindest an die Bild-Zeitung) übermittelt. Siehe u.a. SZ oder TAZ. +++

+++ Außerdem könnten aktuelle Branchenverband-Erfolgsmeldungen zum Pay-TV (VPRT) ein Anlass sein, mal wieder PR für Lust auf Netflix zu machen. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.

 

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