Durchscheinende Sehnsucht

Durchscheinende Sehnsucht
Digitales Feuer, das analog bloß glimmt. Wellenartige Webkritik, in die klassische Medien im Kulturkampf geraten. Generell eine schlechte Zeit für Meinungsfreiheit? Richter, die in sozialen Medien singen. Medien, die an den Intellekt ihrer Leser appellieren. Außerdem: Thomas Middelhoffs fehlende Schlafbrille, Thomas Müllers Gelassenheit, Tilo Jungs gespielter Aprilscherz.

Wieder ein Lehrstück, wie die Omnipräsenz digitaler Medien die Welt verändert. Nun ist's wieder eines, das etwas positiv verändern könnte, auch wenn es von einem selbstredend schlimmen Fall ausgeht (gerade weil es sich um keinen Einzelfall handelt):

"The shooting death of Walter Scott on Saturday would have passed into the annals of history unremarked upon had a bystander not used a cellphone to document what happened after Mr. Scott encountered the police officer, Michael Slager, after a routine traffic stop",

schreibt die New York Times, die das Video (bzw. sind es zwei) auch veröffentlicht hat. "Ohne das Video wäre es bei" einer "lakonischen Pressemitteilung der Polizeistation von South Carolina geblieben", schreibt Dorothea Hahn in der TAZ. Es wurde wohl von einem Mann, der "gerade auf dem Weg zur Arbeit gewesen" (tagesschau.de) war, mit seinem Handy aufgenommen und ist längst um die Welt (vgl. das Foto überm NYT-Artikel) gegangen.

Zu diesem Thema, über das konsequent auch rund um die Welt geschrieben wird, hat krautreporter.de einen instruktiven Beitrag (was sich ja nicht gerade monatlich ereignet). Während das soziale Netzwerk Twitter in Deutschland als ein vor allem in der Mediennische beliebtes Spielzeug gilt, dessen Nutzer sich gelegentlich mit der ganzen Gesellschaft verwechseln, sei in den USA #BlackTwitter groß, berichtet Christian Fahrenbach:

"Schwarze nutzen das Nachrichtennetzwerk Twitter überproportional häufig und behandeln dort häufiger 'ihre' Bürgerrechtsthemen."

Wobei, so schließt der Artikel, die Kluft zwischen digitaler und tatsächlicher Aktivität dieselbe sei wie diesseits des Atlantik:

"Doch Kritiker stellen fest, dass #BlackTwitter bei all der Debatte kaum Einfluss auf politische Vorhaben hat. Es ist das alte Problem der Online-Aktivisten: Zu häufig folgt auf das digitale Feuer keine konkrete Verbesserung in der analogen Welt."

[+++] Nur am Rande:

"Stimmt der Befund, dass Barack Obamas Regierung die Presse- und Meinungsfreiheit stärker beschneidet als jede Regierung zuvor, also auch jene von George W. Bush?"

Diese Frage stellte der Standard Dunja Mijatović. Als OSZE-Beauftragte für die Freiheit der Medien ist die Bosnierin Diplomatin, um nicht direkt mit "Ja" zu antworten. "Wir leben insgesamt in keiner guten Zeit für Meinungsfreiheit", sagt Mijatović mit ziemlich globaler Perspektive.

Immerhin eine gute Nachricht in genau dieser Beziehung kommt aus der Türkei bzw. aus dem türkischen Teil Kurdistans. In Diyarbakir stand die niederländische Journalistin Frederike Geerdink gestern vor Gericht und steht offenbar vor einem unerwarteten Freispruch.

"In einer kurzen Verteidigung entgegnet Geerdink in gutem Türkisch: 'Ich habe in meinen Artikeln nie ein Verbrechen begangen, wie etwa zur Gewalt aufzurufen. Ich bin stolz auf meinen Beruf, ich übe ihn so sorgfältig, unabhängig und professionell aus wie möglich. Ich bin eine Journalistin, auch wenn Sie mich als Propagandistin darstellen.' Nachdem sie gesprochen hat, folgt die erstaunliche Wendung ...",

schreibt Frank Nordhausen u.a. in der Frankfurter Rundschau. Auch Hasnain Kazim berichtet bei Spiegel Online weiter. Gestern wies er darauf hin, dass Geerdink ohne Weiteres hätte ausreisen können, es aber der Medienfreiheit wegen nicht getan hatte.

Indes aus einer "Zelle in der Justizvollzugsanstalt Nr. 6, Silivri" hat die FAZ ein Brief erreicht, den sie heute auf ihrer Medienseite abdruckt. Geschrieben hat ihn Hidayet Karaca. Er "ist Vorstandsvorsitzender der Samanyolu-Gruppe. Er wurde am 14. Dezember vergangenen Jahres bei einer Razzia festgenommen, mit ihm Journalisten und ehemalige Polizisten. Ihnen wird vorgeworfen, eine 'terroristische' Gruppierung zu bilden ...", steht unten drunter. Samanyolu-Sender hätten über Korruptionsverdacht im Umfeld der Partei AKP des Präsidenten Erdogan berichtet und würden selbst dem Umfeld der Gülen-Bewegung zugerechnet. Jedenfalls lautet die Überschrift "So zerstört Erdogan die Demokratie". Karaca schreibt u.a.:

"Mein Prozess dauert noch an. Der Richter, der meine Verhaftung angeordnet hatte, singt in sozialen Medien Lobeshymnen auf den Chef der politischen Macht. Ich sagte ihm bei der Verhandlung, dieser Prozess könne nichts anderes als ein irrwitziger Tagtraum sein, wenn wegen einer Fernsehserie Künstler und Angestellte eines Senders festgenommen würden und ihnen vorgeworfen werde, sie seien Terroristen."

Weil es gestern hier Topthema war, ein Blick in deutsche Zellen: In derjenigen Thomas Middelhoffs in der JVA Essen wurde also "alle 15 Minuten durch den Spion der Zellentür geschaut, ob er noch atmet. Dafür sei das Licht in der Zelle von außen für etwa eine Sekunde eingeschaltet worden", heißt es in einer DPA-Meldung. "Warum hatte Thomas Middelhoff keine Schlafbrille", wie für solche Fälle vorgesehen? Das fragt heute Simone Schmollack in der TAZ. Es ist offenbar wie "vieles ungeklärt".

[+++] Die schon erwähnte New York Times wird auch hierzulande gern gelesen. Sie berichtet seriös, geht die Digitalisierung proaktiv an und profitiert natürlich davon, dass alle Welt auch englisch liest.

Heute kommt sie auch auf der FAZ-Medienseite vor. Deren Macher Michael Hanfeld zitiert aus dem Artikel, in dem die NYT aus dem "orderly, rule-driven and well-engineered" Deutschland über die "almost absurd levels" unserer "battle between preserving privacy and providing information" wegen des Co-Piloten-Namens berichtete. Hanfeld stellt eine sehr hypothetische "Was-wäre-wenn-Frage" und wirft vor allem seine These, dass "die vermeintlichen Medienkritiker ... in Wahrheit Verdrängungskünstler sind", in die Debatten.

[Exkurs-Absatz: Hanfeld ist eben auch ein Universalist, der täglich um Überblick ringt und über Phänomene im Internet genauso schäumen kann wie über Steffen Simon, den ARD-Sportreporter. Die "staunenswerte Gelassenheit" des Fußballers Thomas Müller beim Interviewtwerden, die er in seinem heute früh um 3.49 Uhr veröffentlichten Beitrag lobt, besitzt Hanfeld selbst nicht. Aber auf dem Platz, wenn er kämpft und schießt und fällt und reklamiert, glänzt Müller ja auch nicht durch Gelassenheit ...]

Zurück zum Thema: Ich und die Kollegen hatten gefordert, dass aus der ersten deutschen Erfahrung mit Flugzeugabsturz-Echtzeitjournalismus später gelernt werden sollte, um in irgendwann wahrscheinlich bevorstehenden ähnlichen Fällen besser gewappnet zu sein. Das geschieht nun auch.

"Journalisten geraten in ein Spannungsfeld, in dem sie unabhängig von der rein ethischen Bewertung nur schwer allen Seiten gerecht werden können. Die Analyse zeigt, dass die Anfragen in den Suchmaschinen und die Kritik an der Medienberichterstattung in den sozialen Medien in einem gewissen Widerspruch stehen",

heißt es in einer Analyse des Munich Digital Institute, die Grafiken zu Google-Trends oder Facebook-Posts mit Onlinechefredakteurs-Interviews verbindet und so den "Kulturkampf", in den "die klassischen Medien ... geraten" und "die wellenartige Webkritik", die es ebenfalls ohnehin gibt, ganz gut umreißt. Die Beobachtung

"Die User tendieren heute merklich stärker dazu, ihre Informationen und Informationsquellen durch Suchmaschinen selbst zusammenzustellen",

die also erfordert, dass Journalisten jederzeit im Blick haben müssten, dass ihre Beiträge auch jenseits womöglich klar erkennbarer Kontexte auftauchen können, ist noch ein gutes Ergebnis.

Der Begriff "Institute" ist natürlich so ungeschützt wie "Institut" (und "Journalist" auch), wer betreibt also dieses digitale Institute? Es "versteht sich als ENABLER" und sieht sich "zwischen Forschung und Wirtschaft", sagt der Gründer, "Strategieberater" und diplomierte Sportwissenschaftler Christian Henne. Gründe, skeptisch zu bleiben, liegen also auch hier vor.

Einer der Institute-befragten Chefredakteure ist Markus Hesselmann (der auch kund tut, dass tagesspiegel.de sich "als Medium, das an den Intellekt seiner Leser appelliert", versteht), sagte dabei außerdem:

"An der aktuellen medienkritischen Debatte in Deutschland irritiert mich die vielfach durchscheinende Sehnsucht nach letztgültigen Urteilen von Behörden und sonstigen Autoritäten. Und das offenbar fehlende Verständnis dafür, dass die Medien in einer offenen Gesellschaft ja gerade dazu da sind, diese Autoritäten und deren Hervorbringungen mit eigenen Recherchen und Veröffentlichungen zu kontrollieren und in Frage zu stellen."



Altpapierkorb

+++ Hurra. Tilo Jung ist wieder da, mit dem gespielten Aprilscherz cybertreport.de, und die TAZ berichtet bereits ("Heute sagt er, es werde sicher weitere Folgen von 'Jung und naiv' geben, 'parallel' zu seinem neuen Format, um sich der Politik von unterschiedlichen Perspektiven zu nähern"). +++

+++ Mathias Müller von Blumencrons Plädoyer für einen "medialen Heimatort ..., der ... Glaubwürdigkeit verspricht, Verlässlichkeit, Orientierung" und der daher nicht Facebook sein könne ("Facebook will das Internet für sich allein", faz.net kürzlich) hält die TAZ heute "Rettet Facebook den Journalismus?" entgegen: "Was aber soll daran so verwerflich sein, dass es diesen 'Heimatort' auf Facebook nicht gibt? Das soziale Netzwerk ist ein glänzendes Unterhaltungsmedium und wird als solches benutzt. Wer an der harten Nachrichtenlage interessiert ist, sucht sich eben andere Zugänge. MedienkonsumentInnen können schließlich auch zwischen dem ARD-Boulevardmagazin 'Brisant' und der 'Tagesschau' unterscheiden. Beide finden ihr Publikum. Beide werden von den Rundfunkbeiträgen bezahlt", argumentiert Daniel Kretschmar. Dass Facebook mehr als "ein paar Brotsamen für die Inhalteproduzenten abfallen" lässt, glaubt er aber auch nicht. +++

+++ Meanwhile in Wien: ein neuer von Max Schrems initiierter Prozess gegen Facebook. Gut 25.000 Kläger "fordern einen 'symbolischen Schadenersatz" von 500 Euro pro Person" (siehe ebenfalls TAZ, europe-v-facebook.org/ PDF). +++

+++ Dass "das koordinierte Vorgehen der Aufsichtsbehörden" für Datenschutz "auf europäischer Ebene" bei Google Wirkung zeige, meldet die FAZ. +++

+++ Beim Spiegel sind die Chefredakteure Klaus Brinkbäumer und Florian Harms zufrieden mit Heftverkauf am Samstag und dem Stand der Monetarisierungs-Bemühungen online (TAZ/ EPD). Als ursprüngliche Quelle hat der Hessische Rundfunk die Originaläußerungen der beiden in entzückenden Retro-(Text-)Sound ("Das Internet-Angebot Spiegel Online – nunmehr seit über 20 Jahren im Rennen – gehört nach wie vor zu den wichtigsten Informationsseiten der Online-Surfer ...") eingebettet. +++

+++ Heute wieder eine gute Mischung auf der SZ-Medienseite: U.a. werden Vor- und Nachteile des Geoblocking, das EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager abschaffen möchte, abgewogen. "Ein Film kann nur deshalb europaweit verwertet werden, weil er je nach Sprach- und Kulturraum vermarktet wird - anders lässt er sich nicht vorfinanzieren", sagt Alexander Thies von der Allianz Deutscher Produzenten. Netflix indes ist dafür. Kommissar Günther Oettinger hatte sich in gewohnter Prägnanz ("Wir dürfen das Kind nicht mit dem Bade ausschütten", ) schon skeptisch geäußert. +++

+++ Außerdem in der SZ: der schon drei Wochen dauernde Streik in Frankreichs öffentlich-rechtlichem Rundfunk als "Lehrstück über Frankreichs Reform-(Un)Fähigkeit". +++ Wie in Japan die Medienfreiheit eingeschränkt, womöglich auf den Stand der 1930er Jahre zurückgefahren wird. +++ Der Seitenaufmacher würdigt das 15-jährige 11 Freunde-Jubiläum ("Ich habe zu der Zeit Oliver Kahn für ein Interview getroffen, ich habe ihm ein paar Hefte mitgebracht, um ihm zu zeigen, was wir überhaupt sind. Als er dann meinte: 'Schon gut, ich lese euch', da hab ich gemerkt. Es geht aufwärts'", blickt der stellvertretende Chefredakteur Tim Jürgens zurück). +++

+++ "Wein, Eierlikör oder Bier - die Gäste der Show mussten bei der Premiere der TV-Talkshow-Reihe nicht auf dem Trockenen sitzen": Ein Trink-Wortspielchen kann sich die Passauer Neue Presse dann doch nicht verkneifen, bevor sie die CSU-Politikerin und Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler, mit Kritik an Hugo Egon Balders Sendung "Der Klügere kippt nach" zitiert ("Wenn das die Zukunft des Fernsehens ist, dann sind wir bald nur noch von Sinnen"). Immerhin fehlt der Hinweis, dass die Marktanteile des Senders Tele 5 sich eher im Promille-Bereich bewegen. +++ Niedersachsens Gesundheitsministerin Cornelia Rundt (SPD) legt aus Oldenburg eloquent nach: "Noch unsäglicher ist, dass das haltlose 'Nachkippen' auch noch als Klugheit verkauft wird, statt als das, was es ist - nämlich extrem dümmlich." +++ Im Anschluss an die weiterhin geplante Staffel dieser Show plant der kleine Privatsender dann eine zu senden, in der offenbar irgendwas geraucht wird (dwdl.de) ... +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.

 

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