Nutzen, Sitzen und Nachdenken

Nutzen, Sitzen und Nachdenken

Ein Pflegeheim-Zimmer ist doch kein Haushalt im Sinne des Rundfunkrechts. Der Kika-Skandal scheint weiterzugehen. Außerdem: digitaljournalistische Selbstkritik, "kostenpflichtige Erotik-Abos" und ein Appell gegen "Frauenhass im Internet".

Erst mal eine Geschenkidee für Medienmenschen, zumindest für solche, die dem Totholz verhaftet sind beziehungsweise genug davon besitzen, um es auch im ursprünglichsten Wortsinn be-sitzen zu können: Der "Hockenheimer" entstammt den Laboratorien der renommierten Wochenzeitung Die Zeit, deren Shop wir das Foto entnommen haben.

Er eignet sich auch für Zeitungen geringeren Formats als Die Zeit, wie die Kundenbewertung eines Nutzers aus Bad Wildbad ("Nun darf ich meine Segelzeitschriften noch ein Jahr behalten, dank 'Hockenheimer'! Nutzen, Sitzen und Nachdenken...") belegt. Und, für viele Medienmenschen dieser Tage nicht unwichtig, mit seinem Preis von nur 139,95 Euro eignet er sich auch für zumindest mittlere Geldbeutel, in denen die an dieser Stelle bereits erwähnte, ebenfalls vom Zeit-Shop angebotene Queen Mary 2-Reise nach New York in Begleitung des renommierten Motor-Journalisten Josef Joffe dennoch nicht drin ist.

[+++] Damit hinein in den gewohnten Ernst der Auseinandersetzungen um die Mediensphäre. Neue Analysen zur Zeitungskrise liegen gerade nicht vor, wenn man davon absieht, dass Stephan Dörners hier ebenfalls bereits weit erwähnter und wirklich weit gereister "Seit der Insolvenz von Frankfurter Rundschau und dem Aus der FTD überschlagen sich wieder einmal die Analytiker"-Text inzwischen auch beim Freitag, also der frisch ebenfalls Zeitungskrisen-bedrohten Wochenzeitung auftaucht.

[+++] Doch hängt in der Mediensphäre mehr noch als im wirklichen Leben alles mit allem zusammen, insofern auch, wenn jetzt zum Jahresende bzw. bevorstehenden Beginn des Jahres, in dem die neue Rundfunkgebühr/ Haushaltsabgabe wirksam wird, die kriselnde gedruckte Presse dieses Thema besonders thematisiert.

Die heißeste News aus der öffentlich-rechtlichen Sphäre lautet "MDR beurlaubt Mitarbeiter" (Originalmitteilung des MDR) bzw. "MDR beurlaubt Programmgeschäftsführer des Kika", wie der Tagesspiegel sie überschreibt. Wer den bislang ja keineswegs geheimen Namen dieses Programmgeschäftsführers nennt, Steffen Kottkamp, ist in der TAZ Steffen Grimberg unter der Überschrift "Dunkle Schatten über Erfurt". Grimberg hatte gerade gestern (siehe Altpapierkorb) in der TAZ ein ebenso ausführliches wie freundliches Porträt der MDR-Intendantin Karola Wille veröffentlicht. Was genau Kottkamp vorgeworfen wird, kann man dann gewiss an den nächsten Tagen lesen.

[+++] Noch 'ne Öffentlich-Rechtlichen-Meldung findet breiten Widerhall und führt nun unmittelbar zur Haushaltsabgabe:

"Die Intendantinnen und Intendanten von ARD, ZDF und Deutschlandradio haben sich darauf verständigt, dass Pflegeheimbewohner ab 2013 keinen Rundfunkbeitrag zahlen müssen. Pflegeheime sollen bis zu dem Zeitpunkt, zu dem der Gesetzgeber diese Problematik im Rahmen der Evaluation abschließend gelöst hat, als Gemeinschaftsunterkünfte behandelt werden. Damit entfällt die Beitragspflicht für einzelne Zimmer und deren Bewohner."

Etwas merkwürdig, dass Intendantinnen und Intendanten offenbar in der Lage sind, nach eigenem Ermessen zu bestimmen, wer denn genau die Ausgaben ihrer Anstalten zu bezahlen hat, und den sonst oft  gepflegten Anschein hintanstellen, hinter allem Anfechtbaren (z.B. hinter der Verpflichtung, neben all den Dritten und Kultursendern, auch noch sechs digitale Nischensender zu betreiben) stecke stets allein "der Gesetzgeber".

"Dass die neue Gebühr, der Rundfunkbeitrag, in den Staatskanzleien der Bundesländern in engere [sic] Absprache mit den öffentlich-rechtlichen Sendern entwickelt wurde", merkt dazu Michael Hanfeld bei faz.net an, der der gewohnt ÖR-kritischen Linie folgt und den "erstaunlich" "schnellen Sinneswandel" auch auf die Berichterstattung bei faz.net zurückführt. Die der Bild-Zeitung könnte es ebenfalls  gewesen sein. (Da braucht es aber auch nicht zu viel Differenzierung, immerhin hat die Bild-Zeitung Hanfelds gestrige Thommy Gottschalk-Exklusivitäten gelesen und würdigt sie durch Weiterverbreitung).

Die Pflegeheim-Meldung verbreiten auch wiederum TAZ und Tagesspiegel (darunter Leserkommentar von "ach": "... stellt sich die Frage, warum ausgerechnet die nicht bezahlen sollen, für die das Programm (Musikantenstadl, Adelshochzeiten. etc...)so offensichtlich gedacht ist") weiter.

[+++] Den großen Rundumschlag zur Haushaltsabgabe übernimmt auf der Meinungsseite 4 der Süddeutschen Zeitung heute Claudia Tieschky, die noch immer vertretungsweise Medienressortleiterin, die auch den Spagat zwischen Wortmächtigkeit und Differenzierung beherrscht. "Das Zwangspublikum" heißt ihr Leitartikel und beginnt mit dem schon geläufigen Kirchen-Vergleich ("Aus der Kirche kann man austreten, aus dem deutschen Rundfunksystem kann man es nicht mehr..."). Die vielleicht prägnanteste Passage lautet:

"Zu dem System, das alle mitfinanzieren müssen, gehören die Verträge mit Günther Jauch genauso wie der sechste digitale Spartenkanal, die Kochsendungen und die Rechte für Fußball-Bundesliga und Boxkämpfe. Es ist ein Rundfunk, der sich in unfassbar langweiligen Hauptprogrammen seit einigen Jahren aufs ältere Stammpublikum konzentriert und für alles andere Ableger schafft: für Information (Tagesschau24), für Bildung (ZDF Kultur, Arte), für Bundestagsdebatten (Phoenix), und demnächst wird es noch einen Jugendsender geben."

Den good cop, der seine eigene Rolle, die der kriselnden Presse und die Zusammenhänge mitreflektiert (was in der gedruckten Presse ja nicht selbstverständlich ist), übernimmt Tieschky aber ebenfalls:

"Es ist nicht ganz einfach, Geld für Qualitätsjournalismus, für verlässliche Information und Kultur zu bekommen, wenn das Internet alles Mögliche und auch jeden Quatsch gratis bietet. Das Problem galt bereits für die alte Rundfunkgebühr, und die Verlagshäuser kennen es auch. Aber Akzeptanz erreicht man nicht mit Zwang. Man erreicht sie mit gutem Programm..."

[+++] Damit noch in die digitale Mediensphäre, in der alles Deutsch-Öffentlich-Rechtliche höchstens noch eine Facette unter vielen darstellt. Zur vorgestern und gestern aufgekommenen und schon wieder abklingenden Aufregung um den Fotodienst Instagram hat Patrick Beuth bei zeit.de einen bemerkenswerten Kommentar verfasst. "Dass die künftigen AGB von Instagram als Datenschutz-Skandal wahrgenommen wurden, ist die Folge von Fehlern des Unternehmens und von Journalisten", schreibt er. Was den journalistischen Anteil betrifft, schreibt er dies:

"Den zweiten Fehler haben viele Journalisten gemacht, auch ZEIT ONLINE. Sie haben Instagram und Facebook eine klare Absicht unterstellt, Nutzerfotos ungefragt und unbezahlt zu Werbezwecken zu verkaufen oder zu verwenden. Und dabei vergessen, darauf hinzuweisen, dass Instagram sich zunächst nur die Möglichkeit einräumt, so zu handeln."

Was für meinen Geschmackt arg naiv ist. Anzunehmen, dass kalifornische Konzerne beim Abfassen ihrer AGBs nicht naiv sind und längst auch gern Testballons loslassen, um zu schauen, ob sich größere crowds aufregen, ist sicher kein Fehler. Dass in den Digitalressorts an Manager hochkapitalistischer Konzerne offenbar ganz andere, viel lockerere Maßstäbe angelegt werden als z.B. in den Medienressorts an die Manager des öffentlich-rechtlichen Systems, ist für meinen Geschmack ein größeres journalistisches Problem.
 
[+++] Der Chef des hochkapitalistischen deutschen, wenngleich in Luxemburg ansässigen Internetkonzerns Manwin (u.a. Youporn), der gerade auch durch seine Verhaftung in Belgien prominente Fabian Thylmann, steht im Mittelpunkt einer der deutschen medienjuristischen Auseinandersetzungen. Eine einstweilige Verfügung gegen den WamS-Artikel "Das Porno-Imperium - Ein Deutscher erregt die Welt" aus dem September hat das Landgericht Düsseldorf vollständig aufgehoben. Darüber berichten die Autoren Florian Flade und Lars-Marten Nagel selbst im neckisch illustrierten Blog des "Welt-Investigativteams" und die Süddeutsche, die Thylmanns Geschäftsidee so zusammenfasst:

"Er bietet Pornografie im Netz zunächst gratis an, vertraut dann mit Erfolg darauf, dass sich genügend Kunden für ein kostenpflichtiges Erotik-Abo auf einer der Seiten begeistern."

Genau das Modell also, natürlich mit anderen Inhalten, das viele andere im Internet, wie z.B. viele Zeitungsverlage, inzwischen auch verfolgen wollen.

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[+++] Gender-Themen gehören nicht zu den Kernkompetenzen des Altpapiers. Dennoch muss auf einen recht flammenden Appell von Anke Domscheit-Berg auf der FAZ-Medienseite 33 erwähnt werden. "Frauenhass im Internet/ Das Medium braucht eine inklusive Kultur", lautet hier die Überschrift. Die ersten Sätze gehen in geläufige Richtungen ("Das Internet ist das erste inklusive Kommunikationsmedium, seit Menschen kommunizieren..."), um dann aber diese Ansichten zu widerlegen ("Dennoch trügt der Anschein von Meinungsfreiheit für jeden. Eine Meinungsäußerung ist nur dann frei, wenn keine Furcht vor potentiellen Sanktionen jemanden davon abhält, sich überhaupt zu äußern...") und zu folgendem Kern zu gelangen:

"Soziale Sanktionen im Internet sind jedoch häufig und effektiv. Hass und Spott ergießen sich von einzelnen oder als Shitstorm von vielen und bringen immer wieder Menschen dazu, sich aus bestimmten Communities ganz zurückzuziehen. Überdurchschnittlich häufig sind diese Menschen Frauen oder Menschen, die auf andere Weise vom Standard des weißen, heterosexuellen Normalo-Mannes abweichen."

Domscheit-Berg schreibt dann von eigenen Erfahrungen:

"Als ich kürzlich auf Twitter den Umstand beklagte, dass sich mal wieder eine politisch aktive Frau von Twitter verabschiedet hat, weil ihr die Angriffe zu viel wurden [offenbar Julia Schramm aus dem Piratenpartei-Bundesvorstand, um die es zuvor ging; AP], war schnell die Rede von sklavischen Nutten und dämlichen Frauen. Das kenne ich alles, mein politisches Engagement wurde schon früher kommentiert mit: das sei 'der Anfang vom Ende, wenn durchgeknallte deutsche Femi-Weibchen mitreden wollen'. Ich erspare den Lesern Zitate aus der untersten Schublade... "

Etwas konkrete Beispiele oder Beschreibungen, z.B. ob es allein um die sogenannten sozialen Medien und (dann müsste man ebenfalls sagen: sogenannte) Communities geht, wären zum besseren Verständnis sicher hilfreich, und ob im letzten Satz ("Allein mit der Kreativität weißer homosexueller Männer werden wir dieses Ziel", also alles Schöne, was Internetkommunikation böte, "nie erreichen") nicht ein Tippfehler steckt, erschloss sich mir nicht. Aber das Flammen des Appells beeindruckt. Eine nüchterne Analyse zu einem im weiteren Sinne ähnlichen Themenfeld ("Frauen & Blogs") hat, inklusive gelinder Vorbehalte gegen "das Gendern", Vera Bunse auf Carta verfasst. Sie gelangt zum Ergebnis:

"Also: Es hat sich viel getan, das Internet ist keine Nerdecke oder Männerdomäne mehr. Frauen werden ebenso gerne gelesen wie Männer, und aus demselben Grund: Sie haben etwas zu sagen, weil sie über ihre Anliegen nachdenken und ihnen klar wird, dass andere dieselben haben..."


Altpapierkorb

+++ "Chaos und Konfusion" (BLZ) sowie "völlige Unfähigkeit" (TAZ) bei der BBC, also "chaos and confusion" sowie die Einschätzung, die englische Anstalt sei "'completely incapable' of dealing with the Jimmy Savile affair", hat ein "excoriating 185-page report" (Guardian) zu dieser Missbrauchs-Affäre festgestellt. +++

+++ Nachhall zur im Altpapier gestern behandelten Jahresbilanz der Reporter ohne Grenzen findet sich in der Berliner Zeitung und, eindrucksvoll, bei sueddeutsche.de: "... Die getötete Journalistin Marie Colvin, die größte Vorbehalte vor ihrer letzten Reise nach Syrien hatte, wurde nicht nur vom Wunsch getrieben, aus der umkämpften Stadt zu berichten, sondern auch von der Sorge um ihre Zunft: 'Wie kann ich dazu beitragen, dass mein Beruf überlebt in einer Welt, die ihn nicht zu schätzen weiß?', fragte sie einen Freund: 'Ich habe das Gefühl, ich bin der letzte Reporter in der YouTube-Welt'", berichtet Sonja Zekri. +++

+++ Daniela Zinser hat für die BLZ die Dreharbeiten des diesjährigen "Premium-Pilchers" besucht, also desjenigen unter den jährlich 200 Pilcher-Filmen des ZDF, der durch besonders schöne Schauwerte auch jenseits des deutschen Sprachraums konsumierbar sein soll. +++

+++ Hans Hoff hat für die SZ den Sitz von Dügün TV in Köln-Dellbrück besucht, wo "zwanzig Mitarbeiter" "den ganzen Tag nichts anderes (machen), als türkische Hochzeiten über die Satelliten zu verbreiten". +++

+++ Der gestrige FAZ-Medienseiten-Appell, der "Aufruf zum abschaltenden Widerstand" wegen schwarzen Humors und Gewaltdrastik, steht inzwischen frei online. +++ Was auch für die Schriftform des gestern hier erwähnten 99-fragigen Moritz von Uslar-Interviews mit Peer Steinbrück gilt. +++

+++ Wer ebenfalls überregionale Zeitungen gut findet: der evangelische Medienbischof Ulrich Fischer (evangelisch.de). +++

+++ Wer Pro Siebens Ankündigung der "TV Total Prunksitzung mit Stefan Raab" wegen der Verwechslung von zwei nur ähnlich lautenden Karnevalsfachbegriffen "eher peinlich" findet: der Kölsche Stadtanzeiger. +++

+++ Und Florian Schroeder, Moderator der neuen ARD-Satireshow "Das Ernste", verspricht im Tsp.-Interview: "Wir lösen in unserer Sendung sogar das aktuelle Talkshow-Problem der ARD final, indem wir einfach ihre fünf Talkmoderatoren miteinander talken lassen, jeden Abend, ohne Gäste. Keiner muss gehen, alle sind versorgt." +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.
 

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