Nicht mal Spesen

Nicht mal Spesen

Heute geht es um die ungute Rolle der Psychologen in der Berichterstatttung zum Newtown-Massaker, die Pressearbeit der amerikanischen Waffenliebhaber, das autojournalistische Schaffen des Zeit-Herausgebers Josef Joffe und die möglicherweise schlechteste „Presseclub“-Sendung ever.

Am Montag um zirka 17.30 Uhr hat der grundsätzlich ja viel gelobte Guardian in seinem Live-Blog zu den Folgen des Massakers von Newtown eine Slideshow eingestellt, also eine vertonte Fotostrecke (man muss ein bisschen runterscrollen, um den Beitrag zu finden). Produziert hat die Bilder die Nachrichtenagentur AP, zu sehen sind in der Öffentlichkeit trauernde Menschen aus Newtown, zu hören ist Schluchzen und Klagen. Es sind Bilder und Töne, die man mittlerweile für normal zu halten geneigt ist, weil sie einem an vielen Ecken des Netzes begegnen, aber mit genau solchen Inhalten sollten wir ein Problem haben, wie die Medienforscherin Danah Boyd meint:

„Can we leave the poor people of Newtown alone? Can we not shove microphones into the faces of distraught children? Can we stop hovering like buzzards waiting for the fresh meat of gossipy details? Can we let the parents of the deceased choose when and where they want to engage with the public to tell their story?“

Die Kritik an „den Medien“ greift dabei zu kurz, denn, so fragt Boyd, warum tun die Medien denn das, was sie tun?

„Because we – the public – are gawking at the public displays of pain. Our collective fascination with tragedy means that we encourage media practices that rub salt into people’s wounds.“

Journalisten sollten Betroffenen zwar die Möglichkeit geben, sich zu äußern, wenn sie es denn wollten, aber:

„Just because people are coming out into their community to mourn doesn’t mean that they want their image blasted onto national TV.“

Es folgt noch ein jenseits des Newtown-Massakers geltender Merksatz:

„And just because people are physically in a public space doesn’t mean that they’re public figures.“

Man kann über den Guardian heute aber auch durchaus Positives sagen, weil er zur bisherigen Kritik an der Berichterstattung zum Amoklauf (siehe Altpapier vom Montag) einen wichtigen Aspekt hinzufügt: Er beschäftigt sich mit der Rolle, die Psychologen spielen, spielen müssen oder meinen, spielen zu müssen. Es geht um Psychologen, die sich unter Druck gesetzt fühlen von nach ferndiagnostischen Zitaten gierenden Journalisten, die Autismus für so was wie Schizophrenie halten, aber auch um Psychologen, die offenbar kein Problem damit haben, sich zu Themen äußern, von denen sie so wenig Ahnung haben, dass sie sich dazu öffentlich eigentlich nicht äußern dürften.

Bekanntlich bald für den Guardian tätig ist der Zeit-Online-Chefredakteur Wolfgang Blau, der bei Twitter auf einen Slate-Artikel verweist, in dem es um die Post-Massaker-Pressearbeit der National Rifle Association (NRA) geht. Angesichts der Gefahr, die von diesem Ballermann-Verein ausgeht, bin ich mir nicht sicher, ob Blaus Begriff „smart pr-team“ - trotz der wohl intendierten Ironie - angemessen ist. In dem Text wird jedenfalls nachgewiesen, dass NRA-Sprecher Andrew Arulanandam - der vermutlich rekrutiert wurde, weil er reden und nicht nur mit einer Knarre umgehen kann - den Medien nach jedem Amoklauf praktisch dasselbe mitteilt, nämlich, dass „jetzt“ nicht der Zeitpunkt sei, um über Gesetze zu diskutieren.

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[+++] Ein ausgeruhter Text zur Berichterstattung über Kate Middletons Krankenschwester Jacintha Saldanha, die sich umbrachte, nachdem sie einem Telefonscherz australischer Radiomoderatoren zum Opfer gefallen war, steht im Blog Überschaubare Relevanz. Es ist eine Reaktion auf die mediale Stillsierung der Witzbolde zu Tätern; vor allem bezieht sich der Beitrag auf einen Text Niklas Maaks für die FAZ, der den Telefonscherz als „jüngstes Beispiel für die zunehmende Gnadenlosigkeit der medialen Verulkungsmaschine“ bezeichnet. Der/die Autor/in setzt sich unter anderem mit Maaks Humorverständnis auseinander:

„Wie idiotisch ist das denn, bei so einem Fall (...) jemandem die gesamte Verantwortung zuschieben zu wollen, der nur einen dummen Witz machen wollte, und es wirklich nicht besser wissen konnte? Natürlich sind Telefonscherze im Radio in aller Regel nicht lustig, und von mir aus können sie noch heute ersatzlos gestrichen werden, gerne gleich zusammen mit den dem dämlichen Dudelsendern, die sie veranstalten. Aber wer so tut, als wäre ein solcher geschmackloser Telefonscherz vergleichbar mit Mord, als wäre gnadenloser Humor ein Kernproblem unserer modernen Gesellschaft, und als wäre Humor generell nur angebracht, solange er mächtige und reiche Menschen verspottet (...), der zeigt damit (...), dass er keine Ahnung hat, was Humor eigentlich ist.“

[+++] Wie lange es manchmal dauert, bis ein Thema zu einem solchen wird, ist erstaunlich. Anlässe, sich mit dem autojournalistischen Schaffen des Zeit-Herausgebers Josef Joffe zu beschäftigen, gibt es seit 2004, als Joffe noch Chefredakteur der Wochenzeitung war. Hat aber keiner gemacht (Nachtrag: außer Wolfgang Michal im Januar 2012), und ich selbst bin auch erst am Wochenende darauf aufmerksam geworden. Auslöser für die häufige Erwähnung bei Twitter und Facebook könnte der Vorspann dieses aktuellen Testberichts gewesen sein:

„Christine Brinck und Josef Joffe fahren mit dem Audi Q3 2.0 TDI quattro von München nach Italien.“

Der Blogger Hardy Prothmann fragte daraufhin: Was kostet der ganze Spaß? Denn um von München nach Italien zu fahren zu können - wobei man gerechterweise sagen muss, dass sie manchmal auch nicht ganz so weit fahren, nämlich nur „von der Münchner Theresienhöhe bis zu den steirischen Bergen“ -, müssen der Herausgeber und seine Co-Autorin, die zugleich seine Gattin ist, ja erst einmal von Hamburg nach München reisen. Auf Prothmanns Berechnungen bezieht sich Stefan Winterbauer (meedia.de) und fragt:

„Gibt die Zeit-Redaktion (...) tatsächlich tausende Euros dafür aus, dass zwei Mitarbeiter einen Audi von München nach Umbrien kutschieren, um anschließend ein paar flott formulierte Zeilen im Magazin zu drucken? Oder spendiert der Autohersteller gar die ganze Sause? Weit gefehlt. Eine Verlagssprecherin sagte (...), die Autotester der Zeit müssten fast alle Spesen aus eigener Tasche begleichen.“

Das Blatt zahle nur eine „Benzinpauschale von circa 90 Euro“. Das ist nun wirklich die erschütterndste Variante. Jemand gibt sein sauer herbeiformuliertes Geld aus, um von Hamburg nach München zu reisen - nur um sich dann in ein Auto zu setzen? Aber bevor diese Kolumne wieder so autofeindlich wird wie am Freitag, hoffen wir für den Kollegen Joffe jetzt einfach mal, dass er im Juni 2013, wenn er mit der Queen Mary 2 nach New York unterwegs sein wird, um mitfahrenden Zeit-Lesern in „Vorträgen und persönlichen Gesprächen“ dit und dat über die „transatlantischen Beziehungen“ zu vertellen, seine Spesen nicht selbst bezahlen muss.

+++ Wenn man ein Buch rezensiert, in dem vorrangig journalistische Texte aus den frühen 80er Jahren versammelt sind, ergibt sich zwangsläufig ein medienhistorischer Exkurs. So auch in dem Artikel, den Hollow Skai (blog.qtom.tv) über Wolfgang Welts am Freitag auch von der Rheinischen Post besprochene Textsammlung „Ich schrieb mich verrückt“ verfasst hat:

„Die Zusammenstellung seiner Plattenkritiken und Buchbesprechungen, Kampfansagen an Heinz Rudolf Kunze und Auseinandersetzungen mit Herbert Grönemeyer macht deutlich, dass Welt zwar stets ein Chronist des Ruhrgebiets war, aber es eben immer durch seine eigene Brille gesehen hat - wie das zu Beginn der Achtzigerjahre in den aufblühenden Stadtmagazinen, für die er geschrieben hat, üblich war. Für einen sensiblen Beobachter wie Welt war das alles aber irgendwann zu viel und er landete erst in der Psychiatrie und dann als Nachtwächter im Bochumer Schauspielhaus.“

„So mancher Kulturredakteur“, schreibt der frühere Stern-Kulturredakteur Skai, könne aus dem Buch etwas lernen, nämlich,

„wie er sich eine eigene Meinung über eine Platte, ein Buch oder die Welt bildet — und dass es nicht darauf ankommt, Klappen- und Promotexte abzuschreiben, um der Anzeigenabteilung einen Dienst zu erweisen.“


ALTPAPIERKORB

+++ Selbstbeweihräucherung, Geschwafel, Poesiealbumsätze, Filibusterei, Claquerismus - all das hörte Wolfgang Lieb (Nachdenkseiten) in der Jubiläumsausgabe des „Presseclubs“ (siehe Altpapier vom Montag) mit Georg Mascolo, Wibke Bruhns und anderen. Es sei der „absolute Tiefpunkt“ in der 25-jährigen Geschichte der Sendung gewesen, so Lieb.

+++ Ernst Elitz, die semilegendäre Knalltüte, hat wieder zugeschlagen, dieses Mal nicht im Tagesspiegel, sondern, why not?, in der Berliner Zeitung (bzw. der Frankfurter Rundschau). Er elitzt dieses Mal in bewährter Manier über den 2002 verstorbenen Politmagazin-Hooligan Gerhard Löwenthal. Anlass ist der bevorstehende 25. Jahrestag der letzten Sendung von Löwenthals „ZDF-Magazin“.

+++ Über die Unfreiheit der Presse in der Türkei und die aktuellen Folgen für die Zeitung Taraf schreibt Christiane Schlötzer in der SZ: „Erst vor fünf Jahren wurde Taraf gegründet, die Zeitung entwickelte sich rasch zum wichtigsten Investigativ-Medium der Türkei. Sie sorgte dafür, dass Generäle wegen Putschplänen vor Gericht und ins Gefängnis mussten. Zuletzt richtete sie ihren Stachel immer öfter gegen Premier Tayyip Erdogan.“ Nun hat sich der Chefredakteur verabschiedet, er wolle wieder Romane schreiben, verkündete er in seiner letzten Kolume. Schlötzer dazu: „Diese Begründung glauben weder Altans Freunde noch seine Gegner, zumal mit ihm auch seine Stellvertreterin Yasemin Congar und andere prominente Autoren das Blatt verlassen haben.

+++ Eine etwas vertracktere Meinungsfreiheits-Causa: Der staatliche griechische TV-Sender ERT hat seinen Geschäftsführer geschasst. Eine von ihm in Auftrag gegebene Doku über den Erfolg türkischer TV-Serien sei angeblich „türkische Propaganda“. Die Deutsch-Türkischen Nachrichten berichten.

+++ In Chile ist derweil der Korrespondent von dpa in Gefahr (dwdl.de).

+++ Der neue dapd-Investor Ulrich Ende äußert sich im Tagesspiegel zu den Fehlern seiner Vorgänger (siehe auch Spiegel, Seite 159): „Die dapd ist in den vergangenen zwei Jahren auf eine wirtschaftlich unsinnige Weise aufgebläht worden. Von 130 Mitarbeitern auf 300. Einen zweiten Sportdienst braucht beispielsweise niemand, weil es nun mal nur eine Sichtweise auf das geschossene Tor gibt. Aber dass es mit der Deutschen Presse-Agentur, der dpa, quasi eine genossenschaftliche, allumfassende erste Kraft gibt und sich dahinter alle anderen anzustellen haben, das kann doch auch nicht sein, was der deutsche Journalismus will, was dem gesellschaftlichen Pluralismus gut tut.“ Sehr unterhaltsam: der letzte Satz der unten drunter stehenden Ende-Kurzbio, der Apparatschik-Sprech mit irgendwie geheimnisvollen Andeutungen verbindet: „Zuletzt restrukturierte er Fernsehsender in Bulgarien.“

+++ Außerdem lobt der Tagesspiegel den arte-Themenabend „Gift im Spielzeug“, denn: „Jede Position kommt zu Wort – Lobbyisten ebenso wie Hersteller, Politiker, Forscher und Eltern.“

+++ Die Funkkorrespondenz hat ein Interview mit dem Produzenten Leopold Hoesch online gestellt, in dem dieser von einer kuriosen Entwicklung rund um seine Boxbrüder-Doku „Klitschko“ berichtet. Es sei „der erste deutsche Film, der jemals an den amerikanischen Pay-TV-Sender HBO verkauft wurde und der dort in deutscher Sprache mit englischen Untertiteln zu sehen war. Auch ist mir kein unabhängiger deutscher Dokumentarfilm bekannt, der – wie ‚Klitschko‘ – von einem Hollywood-Studio vertrieben wird. (...) Der heutige Stand der Dinge sieht allerdings so aus, dass ‚Klitschko‘ dank Universal Pictures praktisch in jedem Land der Welt gesendet wird, nur nicht in Deutschland.“ Über das deutsche Fernsehen im allgemeinen (‚Hinsichtlich seiner Breite und Tiefe absolut einmalig‘) und sogar über Guido Knopp (‚Schade, dass er geht‘) sagt Hoesch dagegen Gutes.

+++ Und auch das noch: eine Nagellack-Kollektion zur viel gelobten HBO-Serie „Girls“ kommt im Januar.

Neues Altpapier gibt es wieder am Mittwoch.

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